1. Teil

 

 

Dies ist eine " Drama & Coming Out " Geschichte die ich geschrieben habe.
Nun möchte ich auch euch ein wenig Teilhaben lassen.
Das Buch ist Leider noch nicht im Buchhandel oder über Amazon.de & Buch.de erhältlich.


Nun aber zur Geschichte







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Vorwort

If I could turn the page in time, then I'd rearrange just a day or two ... ist der Anfang des Songs Little Lies von Fleetwood Mac. Wie oft wünscht man sich, man hätte einige Dinge anders gemacht? Und vor allem: Wie oft wünscht man sich, dass andere Leute Dinge anders gemacht hätten?

Genauso geht es Lucas Reilly, einem der beiden Protagonisten dieser Geschichte. Lucas ist 19 Jahre alt und hat gerad sein Abitur in der Tasche. Der letzte Tag seines Urlaubs ist gleichzeitig der Tag des Rückfluges. Der Rückflug verläuft nicht ganz planmäßig, aber die Ereignisse, die sich anschließend ereignen, passen noch weniger in Lukes Planung für die Sommerferien. Gut, wenn man Freunde hat.

Diese Geschichte ist zwei Personenkreisen gewidmet: zunächst einmal allen Jungs, denen es genauso geht wie Janosch. Zum Glück habe ich selbst keine unmittelbaren Erfahrungen mit diesem Thema, aber ich habe zum Glück Freunde, die mich in dieser Beziehung unterstützen und mich immer wieder ermuntern, weiterzuschreiben. Der zweite Personenkreis, dem diese gewidmet ist, sind die Personen wie Ripley Masters und Roland Westermann, die sich selbstlos für andere einsetzen und alles daran setzen, allen Janoschs auf dieser Welt zu helfen. Das setzt aber auch voraus, dass alle in Janoschs Situation den Mut finden, darüber zu reden. Zumindest einen Freund, mit dem man über alles reden kann, hat jeder.

Die Personen und die Handlungen in dieser Geschichte sind größtenteils frei erfunden, aber dennoch geschehen Dinge in dieser Art jeden Tag. Der Grund, warum ich diese Geschichte geschrieben habe, wird hier noch nicht verraten - das würde zu viel von der Story vorwegnehmen, und das ist nicht der Sinn der Übung. Ich weiß zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, wie lang diese Story überhaupt werden wird, aber es wird definitiv mehr als nur einen Teil geben.

Wer den Namen »Ripley Masters« gelesen hat, wird vielleicht sagen: »Moment mal ... den kennen wir doch irgendwo her?« Wäre das hier ein Dialog, würde ich jetzt nur wissend grinsen und nicken. Natürlich, Ripley Masters und einige andere Leute sind alte Bekannte aus der Geschichte »Jason«. Auf diesem Wege soll sich dann wieder der Kreis schließen, der meine Storys miteinander verknüpft.

Genug der Vorrede - ich habe noch genug zu schreiben, Ihr noch genug zu lesen, und darum will ich Euch nicht länger mit dem Vorwort aufhalten. Nur eins noch: Wenn Ihr sowieso gerade ein bisschen schlechter drauf seid als sonst, solltet Ihr Euch vielleicht zweimal überlegen, ob Ihr wirklich mit dieser Geschichte anfangt. Sie wird Spuren hinterlassen, da bin ich mir sicher. Und das ist beabsichtigt. Nur noch eine Bitte: Wenn in Eurem Freundeskreis mal ähnliche Andeutungen fallen - so wie das, was Janosch passiert ist - versucht mal, es nicht zu überhören, sondern hört zweimal hin. Und reagiert entsprechend. Wenn Ihr sonst auch vielleicht nicht viel tun könnt, außer demjenigen zur Seite zu stehen - aber das könnt Ihr tun. Und das ist verdammt wichtig.
 

Euer Jan K.
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Der Junge und sein Leben

 

1. Kapitel

 

12. Juli 2000:
»Meine Damen und Herren, wir freuen uns, sie an Bord unseres Fluges von Chania nach Hannover begrüßen zu dürfen. Ihr Flugkapitän ist ...« Ich steckte mir die Ohrhörer meines Walkmans in die Ohren und lehnte mich zurück. Schließlich wusste ich, auf welchem Flug ich mich befand, und der Name des Piloten nützte mir sowieso nichts. Die Maschine startete planmäßig, ich schloss die Augen und versuchte, ein wenig zu schlafen.

Ich hatte zwei Wochen Urlaub auf Kreta hinter mir, ein Geschenk meiner Eltern und Großeltern zum bestandenen Abitur. Das Mittelmeer war schon immer mein Traum gewesen, und meine Eltern waren der Meinung, dass ich nach der bestandenen Reifeprüfung (mein Vater sagte nie 'Abitur', sondern immer nur Reifeprüfung) auch alt genug war, um einen kleinen Urlaub allein antreten zu können. Meine Eltern waren währenddessen zuhause geblieben, mein Vater musste arbeiten, und Janosch, mein kleiner Bruder, hatte zu dem Zeitpunkt noch Unterricht gehabt. Mittlerweile hatte auch er Ferien, und ich freute mich darauf, noch ein paar Tage mit ihm zu verbringen.

Einige Minuten nach dem Start kam eine Durchsage des Piloten: »Meine sehr geehrten Damen und Herren, leider haben wir ein kleines technisches Problem mit dem Fahrwerk. Dies wird unseren Flug jedoch nicht sehr beeinflussen, bitte stellen Sie sich lediglich darauf ein, dass der Flug etwas unruhiger werden wird als vorgesehen. Es besteht kein Grund zur Panik.« Ich zog die Augenbrauen hoch. Das Fahrwerk? Na ja ... blieb zu hoffen, dass der Vogel genügend Sprit an Bord hatte, denn durch den erhöhten Luftwiderstand würde sich der Treibstoffverbrauch deutlich erhöhen. Endlich wusste ich, weshalb ich für das Abitur Physik und Mathe als Leistungskurse gewählt hatte ....

Ich schaffte es, trotz der Mitteilung ein wenig zu schlafen, und gegen 13:00 Uhr wurde ich wieder wach. Als ich aufwachte, sah ich, dass wir deutlich unter der normalen Flughöhe waren. Eine Stewardess kam vorbei, und ich winkte sie zu meinem Platz. »Entschuldigen Sie bitte, landen wir schon vorher?« »Es tut mir leid, aber dazu kann ich nichts sagen - die Entscheidung trifft der Kapitän. Aber wenn das der Fall sein sollte, wird er Sie rechtzeitig informieren.«

»Alles klar, vielen Dank«, antwortete ich und beschloss, einfach mal abzuwarten, was der Kapitän - wie hieß er eigentlich? Vielleicht hätte ich doch auf den Namen achten sollen ... - uns zu sagen hatte. Es dauerte keine zwei Minuten: »Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden in ca. zwanzig Minuten einen außerplanmäßigen Stop in Wien-Schwechat einlegen. Es besteht kein Grund zur Besorgnis. Bitte bleiben Sie ruhig sitzen, schnallen Sie sich an und stellen Sie das Rauchen ein. Ladies and Gentleman, in a few minutes we will land for a non-schedule stop in Vienna-Schwechat ...« Aha. Das musste die Durchsage sein, von der die Stewardess gesprochen hatte. Na ja, wahrscheinlich die obligatorischen Vorsichtsmaßnahmen.

Ich arbeitete seit meinem 18. Geburtstag beim Roten Kreuz im Katastrophenschutz, und darum kannte ich die Maßnahmen, die getroffen wurden, wenn es ein technisches Problem an Bord gab - schließlich war unsere Einheit nicht weit vom Hamburger Flughafen stationiert. Ich beschloss, vorsichtshalber wach zu bleiben, und ging im Geiste unseren Einsatzplan für Notfälle durch. Wir hatten das Ganze oft geübt, auch schon zweimal an Bord eines Flugzeuges, aber bisher war nie der Ernstfall eingetreten. Einerseits spürte ich eine gewisse Spannung - ein Hauch von Nervenkitzel und Abenteuer - aber spätestens, als ich mir vor Augen führte, dass ich hier in einem voll besetzten Airbus A310-300 saß und mir ausmalte, was bei einem Absturz passieren könnte, war die Spannung verflogen.

Ein paar Minuten später wurde es etwas ruhiger auf der einen Seite der Maschine, wenige Sekunden später hörte man nur noch den Wind und unruhiges Stimmengemurmel - das sonore Dröhnen der Turbinen war einem unruhigen Rauschen gewichen. Ich spannte mich an und sah noch einmal nach draußen. Mein Verdacht bestätigte sich: Die Triebwerke waren ausgefallen - was aber nur am fehlenden Kondensstreifen zu erkennen war. Am Horizont war schon mittlerweile der Wiener Flughafen zu sehen. Es gab eine weitere Durchsage des Kapitäns: »Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch ein technisches Problem werden wir gezwungen sein, in Wien eine Notlandung durchzuführen. Es besteht nach wie vor kein Grund zur Panik, wir werden Sie ständig informiert halten. Ladies and Gentleman ...«

Das klang nach einem etwas größeren Problem. Während ich noch darüber nachdachte, tippte mir jemand auf die Schulter. »Entschuldigen Sie, haben Sie eine Ahnung, wie diese Anweisungen zu verstehen sind?« fragte mich jemand. Ich drehte mich in die Richtung und sah einen Mann um die vierzig, der etwas unbeholfen versuchte, mit den Sicherheitshinweisen klarzukommen. Er erklärte ihm das Nötigste. »Sie fliegen wohl nicht oft?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Nein, normalerweise fahre ich mit dem Zug. Nur bei langen Strecken nehme ich das Flugzeug.« Dann streckte er mir die Hand hin. »Vielen Dank.« Ich ergriff die Hand und winkte mit der anderen ab.
»Keine Ursache, gern geschehen.«

Eine ganze Weile glitt die Maschine verhältnismäßig ruhig durch die Luft - es war regelrecht unheimlich. Ich schaute abwechselnd auf die Uhr und aus dem Fenster - es war mittlerweile 13:30 Uhr. Plötzlich gingen die Lichter der Maschine aus. Es ertönten ein paar einzelne Schreie. »Meine Damen und Herren, hier spricht noch einmal ihr Kapitän. Dass die Lichter ausgeschaltet wurden, ist eine reine Sicherheitsmaßnahme. Wir werden in wenigen Sekunden landen, die Landung könnte etwas unsanft werden. Bitte verschränken Sie die Arme vor den Kopf und stützen Sie sich an der Lehne des Vordersitzes ab. Ladies ...«

Das Letzte, was ich sah, bevor ich der Anweisung folgte, war der Zaun des Flughafens, der langsam unter uns vorbeiglitt - und für meinen Geschmack sah ich ihn viel zu deutlich. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, brüllte eine Stewardess durch die Kabine: »Köpfe runter!«, und es wurde schlagartig ruhig. Bei Autounfällen ist mir schon ein paar Mal aufgefallen, dass es in der Sekunde vor dem Aufprall immer totenstill zu sein scheint, und genauso war es auch jetzt.

Es krachte ein paar Mal, die Maschine wurde gewaltig durchgeschüttelt, und man hörte das Kreischen von Metall, das zerrissen wurde - ein ekelhaftes Geräusch. Schließlich stand die Maschine still, und plötzlich brach die Panik aus, die der Pilot und die Mannschaft die ganze Zeit versucht hatten, zu unterdrücken - man hörte einige Schreie, und schließlich brüllte fast jeder, der an Bord war, los. Ich nahm vorsichtig den Kopf hoch und sah mich um.

Ein paar der Fächer im Dach waren aufgesprungen, und einige Handgepäckstücke hatten sich in der Kabine verteilt. Ein paar Leute hatten offensichtlich leichte Verletzungen, aber es schien keiner ernsthaft verletzt zu sein. »Stehen Sie bitte auf, gehen Sie langsam zu den Ausgängen und verlassen Sie die Maschine über die Notrutschen!«, rief eine Stewardess durch die Maschine. Die meisten Passagiere standen auf, ohne sich um den Rest zu kümmern. Einige blieben sitzen, und ich sah zwei andere, die versuchten, Kindern oder älteren Menschen zu helfen. Mein Sitznachbar, der vorher Probleme mit der Hinweistafel gehabt hatte, rührte sich ebenfalls nur langsam.

Ich beugte mich zu ihm herüber und rüttelte ihn vorsichtig an der Schulter. »Ist mit Ihnen alles okay?«, fragte ich ihn. Er stöhnte auf, als er den Kopf hob. »Nein, ich glaube nicht«, sagte er gepresst. Ich hob ihn vorsichtig an und lehnte ihn zurück in seinen Sitz, und da sah ich auch schon die Bescherung. Neben seinem Sitz lagen Glasscherben, sein Hemd und seine Hose waren durchnässt und in seinem Arm klaffte eine große Schnittwunde, aus der das Blut regelrecht herauspulsierte. Offensichtlich war eine Flasche aus dem Gepäckfach gefallen und auf dem Sitz vor ihm zerschellt. Die Reste - unter anderem der noch fast intakte Hals der Flasche - lagen auf dem Boden um den Sitz verstreut.

Ich überprüfte erst mal meine Gliedmaßen, ob alles in Ordnung war - zum Glück war das der Fall - und stand dann auf. Um meinen Sitznachbarn herum war alles mit Blut verschmiert. Ich überlegte nicht lange und zog meinen Gürtel aus der Hose. Zum Glück hatten wir damals in der Grundausbildung für den Katastrophenschutz gelernt, wo die Schlagadern verliefen. Ich nahm meinen Gürtel und band den Arm so gut wie möglich ab. Der Blutstrom wurde schlagartig schwächer. Ich schaute mich um, ob ich etwas für einen behelfsmäßigen Druckverband finden konnte. Andererseits wusste ich nicht, wie es um die Maschine stand, und auch in mir kam Panik auf.

»Können Sie aufstehen?«, fragte ich ihn. Er nickte. »Ja, ich glaube, das geht.« »Okay. Dann sollten wir zusehen, dass wir hier herauskommen.« Ich stand auf und nahm vorsichtig seinen unverletzten Arm. Dabei fiel mir auf, dass er eine Krawatte trug. »Haben Sie zufällig ein oder zwei Stofftaschentücher dabei?«, fragte ich ihn. Er griff mit der freien Hand in seine Hosentasche. »Eines habe ich hier.« Es war noch perfekt gefaltet - zwar etwas zerknittert - aber ansonsten noch unbenutzt. Außerdem steckte in der Brusttasche seines Jacketts ein zusammengefaltetes Tuch. Ich nahm beide, faltete sie der Länge nach zusammen und legte sie mit dem sauberen Taschentuch nach unten auf die Wunde. »Ich brauche bitte ihre Krawatte«, sagte ich.

Er sah mich verwundert an, griff dann aber mit der rechten Hand zu seinem Kragen und zog den Knoten auf. Ich band den Stoffstreifen um die Wunde und die Tücher. Es war zwar kein perfekter Druckverband, aber bis der Notarzt eintraf, würde er seinen Zweck erfüllen. Mein 'Patient' sah mich verwundert an. »Sag' mal, wo hast Du das gelernt?«, fragte er. »Ich bin beim Roten Kreuz, Katastrophenschutz in Hamburg.« Er lächelte und streckte mir die unverletzte Hand hin. »Ich bin auch aus Hamburg. Roland Westermann«, stellte er sich vor. Ich erwiderte vorsichtig den Händedruck. »Lucas Reilly.«

»Bist Du Amerikaner?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, meine Mutter ist Irin, und sie hat meinen Vater erst später geheiratet. Bei meinem Bruder hat er sich dann durchgesetzt - er heißt Janosch.« Westermann versuchte noch ein Lächeln, diesmal gelang es ihm besser. »Kommen Sie, wir sollten sehen, dass wir hier 'rauskommen. Jetzt aber wirklich.« Er nickte und ging vorsichtig voran. Ich ging dicht hinter ihm, immer bereit, zuzufassen, falls er das Gleichgewicht verlieren sollte. Aber er hielt sich recht gut auf den Beinen.

Wir waren fast die Letzten, die ausstiegen - hinter uns kamen noch einige Passagiere und die Besatzung der Maschine. Über die Notrutsche ging es nach draußen. Ich versuchte, Herrn Westermann etwas abzufangen, damit er nicht auf seinen verletzten Arm fiel. Draußen herrschte natürlich Chaos - die Menschen standen herum, teilweise - bildlich gesprochen - völlig kopflos, und versuchten, ihre Gedanken zu ordnen oder andere Familienmitglieder zu finden. Mittlerweile waren auch einige Rettungswagen eingetroffen, und die Sanitäter machten ihre Runde.

Ich übergab Herrn Westermann an einen Kollegen vom Österreichischen Roten Kreuz. Dann erkundigte ich mich, ob ich mich noch irgendwie nützlich machen könnte. Der Kollege sah mich abschätzend an. »Hast Du denn Ahnung von so was?« Herr Westermann hielt seinen verletzten Arm etwas höher. »Reicht das?«, fragte er. Der Kollege grinste. »Das sieht nach guter Arbeit aus, aber trotzdem solltest Du Dich vielleicht auch erst mal etwas sammeln.« Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich zum Gehen, als Herr Westermann mich noch einmal rief: »Lucas! Warte bitte mal.«

Ich drehte mich noch einmal um. »Gib' mir doch bitte mal Deine Telefonnummer, ich würde mich gern mal bei Dir melden, wenn wir wieder heil in Hamburg angekommen sind.« Ich nickte. »Okay.« Der Kollege vom Roten Kreuz hielt mir einen Stift und einen Block hin. Grinsend sagte er: »Allzeit bereit.« Ich grinste zurück, was aber wohl eher nervös und angespannt als belustigt wirkte. »Das waren die Pfadfinder - in unserer Satzung steht das nicht drin.« Ich schrieb Herrn Westermann meinen Namen und meine Telefonnummer auf, und er versprach mir, sich noch mal bei mir zu melden, wenn wir das Ganze hier heil überstanden hatten. Außerdem bedankte er sich mindestens fünf Mal für die Hilfe. Ich winkte ab - für mich war das eine Selbstverständlichkeit gewesen, schließlich wurde ich ja seit über anderthalb Jahren darauf getrimmt.

Zum Abschied drückte er mir noch seine Karte in die Hand - wie ich etwas überrascht feststellte, war Dr. Roland Westermann Rechtsanwalt in Hamburg und Geschäftsführer einer renommierten Kanzlei für Familienrecht. »Dann weiß ich ja gleich, an wen ich mich im Falle einer Scheidung wenden kann«, sagte ich. Er sah mich etwas überrascht an. »Du bist verheiratet?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nein ... bisher zumindest noch nicht.« Er versuchte ein Lächeln. »Ich denke, das wird sich schon noch irgendwann ergeben.« Wir verabschiedeten uns mit einem Händedruck, und dann ging ich zum Sammelpunkt für die unverletzten Passagiere.

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2. Kapietel

Drei Stunden später stieg ich wieder ins Flugzeug. Die Fluggesellschaft hatte einige Plätze in einem anderen Flugzeug organisiert, sogar direkt bis nach Hamburg. Aus - nach dieser Beinahe-Katastrophe verständlichen - Gründen hatten viele jedoch auf den Flug verzichtet und sich für den Zug oder einen Mietwagen entschieden. Gerade hatte ich mich hingesetzt, als ich hinter mir eine Stimme hörte. »So trifft man sich wieder. Hallo, Lucas.« Ich drehte mich um, und hinter mir stand mein 'Patient'. »Hallo, Herr Westermann. Was macht der Arm?« Der Arm war verbunden. Offensichtlich war der Schnitt vor Ort genäht worden, jedenfalls blutete nichts durch. Und er hatte sich mittlerweile umgezogen - der Anzug wies jedenfalls keine Blutflecken auf. Nur auf die Krawatte hatte er verzichtet.

»Dem geht's schon wieder recht gut. Nochmals vielen Dank für Deine Hilfe. Der Notarzt meinte, wenn Du nicht so schnell gehandelt hättest, wäre das wohl nicht so glimpflich ausgegangen.« »Wie gesagt, Ehrensache - ich bin seit einiger Zeit beim Katastrophenschutz. Auch wenn ich wohl nie meinen Doktor machen werde«, fügte ich grinsend hinzu. Er winkte ab. »Vergiß' den Doktor und bleib' ruhig beim Vornamen, wenn Du willst. Ich heiße Roland.« Wir schüttelten uns noch einmal die Hände, und ich hatte in der nächsten halben Stunde das Problem, das eigentlich jeder hat, der eine Person erst mit 'Sie' angesprochen hat und dann auf das weniger förmliche 'Du' umgestiegen ist.

Er setzte sich zu mir, und wir kamen während des Fluges - der diesmal ohne Zwischenfälle verlief, wie wir später erleichtert feststellten - ins Gespräch. »Was haben Sie ... hast du eigentlich auf Kreta gemacht? Nach Urlaub sah mir das nicht aus«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte mit einem Klienten etwas zu klären, eine Erbschaftssache. Ich bin auch nur für einen Kollegen eingesprungen, der den Fall normalerweise bearbeitet.« »Und was bearbeitest du sonst? Ich meine, was darf man sich unter 'Familienrecht' vorstellen?« »Ich beschäftige mich hauptsächlich mit Scheidungsfragen und Fällen von sexuellem Missbrauch.« Ups. Das war ein verdammt hartes Thema. Ich war froh, dass ich damit bisher noch nicht unmittelbar in Berührung gekommen war. Oder war er vielleicht ...? Ich beschloss, nachzuhaken.

»Auf welcher Seite?«, fragte ich. »Keine Sorge - immer auf Seite der Opfer. In letzter Zeit ist es allerdings ein paar Mal vorgekommen, dass ein Angeklagter um Unterstützung gebeten hat. Diese Fälle habe ich jedoch abgelehnt.« »Und warum, wenn ich fragen darf?« Er atmete tief durch und trank einen Schluck von dem Kaffee, den die Stewardess mittlerweile verteilt hatte. »Meine Frau und ich haben einen Adoptivsohn, Markus. Er ist jetzt 18 und lebt seit neun Jahren bei uns. Ich habe ihn damals kennengelernt, als der Scheidungsprozess seiner Eltern lief. Dabei stellte sich heraus, dass sein leiblicher Vater ihn schon seit Längerem aufs Übelste missbraucht hat.«

Er schluckte. »Als ich später die Schilderungen gehört habe, auch von seinem Vater selbst, wäre ich am liebsten auf ihn losgegangen. Kurz nach dem Prozess hatte seine Mutter einen tödlichen Verkehrsunfall, und seinem Vater war selbstverständlich das Sorgerecht entzogen worden - davon abgesehen saß er noch im Gefängnis. Und da meine Frau und ich keine eigenen Kinder bekommen können, haben wir ihn zu uns genommen.« Ich mochte gar nicht daran denken. In diesem Moment gingen mir einige Namen und Schlagzeilen durch den Kopf. Kinder, die erst vergewaltigt und dann getötet worden waren. Täter, die viel zu geringe Bewährungsstrafen bekamen. Opfer, die das Ganze zwar überlebten, aber Jahre, wenn nicht Jahrzehnte brauchten, um das Ganze zu verarbeiten, was ihnen angetan worden war.

»Und wie hat Markus das ganze verarbeitet?«, fragte ich vorsichtig nach. »Zum Glück ziemlich gut. Wir hatten das Glück, eine hervorragende Therapeutin für ihn zu finden. Sie hat das Ganze Schritt für Schritt mit ihm aufgearbeitet, und mittlerweile ist aus dem Kleinen ein junger Mann geworden, der mit beiden Beinen im Leben steht. Nach dem Abitur will er Psychologie studieren und in der Jugendhilfe arbeiten.« Ich hatte irgendwo mal gehört, dass viele Psychologiestudenten das Studium nutzten, um erst mal ihre eigenen Probleme zu verarbeiten, und das schien mir hier auch nicht allzu weit hergeholt zu sein. Das war aber auch nur verständlich. Wie gesagt, zum Glück hatte ich nie etwas damit zu tun gehabt, aber trotzdem konnte ich mir ansatzweise vorstellen, was in den Köpfen von Kindern vorgehen musste, denen das widerfahren war.

Den Rest des Fluges verbrachten wir weitgehend schweigend. Am Flughafen in Hamburg verabschiedeten wir uns schließlich. Roland versprach mir noch mehrere Male, sich bei mir zu melden. Schließlich nahm mich meine Mutter am Terminal Vier in Empfang und in die Arme. »Lucas! Was machst du für Sachen! Da lässt man Dich einmal allein los, und schon ...« Ich beruhigte sie. »Mama, es ist alles in Ordnung. Erstens war es wirklich nicht meine Schuld, und zweitens ist nicht allzu viel passiert. Es gab ein paar Verletzte, aber es war nichts wirklich Schlimmes dabei.«

Sie schüttelte den Kopf. »Hauptsache, du bist unverletzt. Geht es dir gut?«, fragte sie. Ich nickte. »Ja, ich bin etwas müde, aber mir fehlt nichts.« »Janosch war ganz besorgt um dich. Er hat im Radio davon gehört und mich ständig gefragt, ob du dich gemeldet hast.« Ich musste lächeln. Das war typisch für meinen kleinen Bruder. Janosch ... mit meinen Eltern verband mich die typische Liebe zwischen Eltern und ihrem Sohn, aber Janosch und mich verband etwas ganz besonderes. Er war 14, somit also fünf Jahre jünger als ich. Wir hatten zusammen schon viel Blödsinn gemacht und unsere Eltern mehr als ein Mal zur Verzweiflung getrieben. Wir vertrauten uns gegenseitig völlig, und im Großen und Ganzen verstanden wir zwei uns blendend. Natürlich stritten wir uns hin und wieder, aber genau so schnell war ein Streit wieder vergessen.

Und wir waren absolut ehrlich zueinander. Mit unseren Eltern nahmen wir das nicht ganz so genau, so stand ich zum Beispiel öfter für das gerade, was Janosch angestellt hatte. Meine Mutter behandelte uns beide gleich, aber bei Dad hatte ich klare Vorteile - selbst Außenstehende konnten sehen, dass er mich meinem Bruder gegenüber bevorzugte. Er sah Janosch eher als Betriebsunfall denn als Wunschkind, und ich wusste, dass meine Mutter seit seiner Geburt wieder die Pille nahm.

Das war auch der einzige immer wiederkehrende Streitpunkt zwischen meinem Vater und mir. Ich hatte ihn schon mehrfach darauf angesprochen, dass ich sein Verhalten Janosch gegenüber ziemlich unfair fand, aber das fruchtete nicht weiter. Janosch war auch schon mehr als einmal von Dad geschlagen worden, jedoch immer so, dass es nicht weiter auffiel. Mum wusste nichts davon, und Janosch wollte auch nicht, dass ich ihr etwas davon erzählte.

Immerhin konnte ich ihn immer ein bisschen trösten. Ich erinnerte mich an manche Nächte, in denen Janosch bei mir im Bett geschlafen hatte. Er kuschelte sich dann immer ganz dicht an mich. Ein paar Mal hatte er schon gesagt, dass er sich bei mir wirklich sicher fühlen würde. Doch seit einiger Zeit tat er das nicht mehr. Er kam zwar noch hin und wieder zu mir, aber er ließ es nicht einmal mehr zu, dass ich ihn in den Arm nahm, wenn es ihm nicht gut ging. Er wollte einfach nur reden. Und ich hatte das Gefühl, dass er irgend etwas vor mir verbarg. Ich hatte ihn einmal danach gefragt, aber er meinte nur: »Später, Luke, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen ist.« Seinen Blick dabei werde ich jedoch nie vergessen ... unendlich traurig. Er hatte wunderschöne blaue Augen, und er konnte manchmal einen wirklich traurigen Hundeblick aufsetzen. All das änderte jedoch nichts daran, dass wir beide nach wie vor die besten Freunde waren.

Meine Mutter rief mich zurück in die Realität. »... mit den Vorbereitungen anfangen?«, fragte sie. »Wie bitte? Ich habe gerade nicht zugehört.« Sie lächelte, während sie den Wagen in die Auffahrt lenkte. »Das habe ich gemerkt. Ich wollte wissen, wann ihr mit den Vorbereitungen für Eure Abschlussfeier anfangen wollt?« Die eigentliche Abiturfeier war schon vorbei, aber wir wollten trotzdem noch mit ein paar Leuten getrennt feiern. Dazu hatte sich unser Haus angeboten, weil wir einen großen Garten hatten und recht abgeschieden wohnten - etwas außerhalb vom Stadtzentrum. Wir, das war eine feste Clique von ein paar Leuten, die sich regelmäßig traf, um irgendetwas zu unternehmen. Seit einiger Zeit hatten wir auch ein schwules Pärchen mit in der Gruppe: Richie Masters und sein Freund Jason.

Wir - Janosch und ich - hatten die Beiden und Richies Halbbruder Nick vor einiger Zeit auf einer Go-Kart-Bahn in Hamburg kennengelernt, als Jason und Janosch fast zusammengestoßen wären. Jason hatte die Kontrolle über seine Kiste verloren, hatte zwei Pirouetten gedreht und war genau vor Janoschs Kart zum Stehen gekommen. Zum Glück konnte der noch fast rechtzeitig bremsen, und es gab weder Verletzte noch ernsthafte Blechschäden. Janosch hatte Jason - er war Schauspieler - erkannt und ganz schüchtern um ein Autogramm gebeten. Jason hatte ihm eines gegeben, und so waren wir ins Gespräch gekommen.

Die drei waren total nett, und auch wenn ich bisher noch nie mit Schwulen zu tun gehabt hatte, fand ich, dass Jason und Richie zusammen ein richtig schönes Paar abgaben. Wir verbrachten den Rest des Tages zusammen, tauschten schließlich die Adressen aus und mussten abends feststellen, dass Richies und Nicks Vater schon öfter mit unserem zu tun gehabt hatte. Ripley Masters war Zahnarzt und ziemlich wohlhabend, und unser Vater leitete die Investmentabteilung einer Hamburger Privatbank. So war schließlich zwischen Richie, Jason, Nick, Janosch und mir eine gute Freundschaft entstanden. Was nicht zuletzt auch daran lag, dass Jason sich absolut normal verhielt und keinerlei Starallüren hatte.

Im letzten Sommer hatten die drei uns beide auf einen Urlaub in die USA mitgenommen - Rip hatte ein Haus in Los Angeles. Wir beide waren das erste Mal in Amerika gewesen und hatten jeden Tag in vollen Zügen genossen. Außerdem hatte Rip Janosch etwas unter seine Fittiche genommen. Wie gesagt, er war Zahnarzt - genauer gesagt: Kieferorthopäde, darauf legte er Wert - und behandelte normalerweise nur irgendwelche Promis (es war schon interessant, wer im Hause Masters so ein- und ausging - ein paar Mal hatten wir Leute getroffen, als wir da waren). Hin und wieder behandelte Rip auch »normale« Leute, meistens wenn es Bekannte von ihm oder seinen Kindern waren - neben Richie gab es noch Julian, der etwas älter war, und die jüngere Schwester Anne (auf die ich ein Auge geworfen hatte).

Für Janosch waren Zahnärzte in jeglicher Form immer das berühmte rote Tuch gewesen, aber dass er sich irgendwann mal in eine Behandlung begeben musste war schon klar, als er sieben Jahre alt war und immer noch nicht von seinem Daumen lassen konnte - was ich im Übrigen auch meinem Vater zuschreibe. Ripley hatte es jedenfalls geschafft, Janoschs Vertrauen zu gewinnen, und mittlerweile bereute der seine Entscheidung nicht. Ich weiß, das Ganze ist nicht unbedingt interessant, aber für den späteren Verlauf der Ereignisse nicht ganz unwichtig.

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3. Kapitel

Zurück in die Gegenwart. Mittlerweile war ich in meinem Zimmer und packte meinen Koffer aus. Es klopfte, und mein Vater stand in der Tür. »Lucas! Zum Glück ist dir nichts passiert!«, rief er. Er kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. »Geht es dir gut?«, fragte er. Ich nickte. »Ja, alles okay, ich bin nur müde.« Er lächelte. »Hauptsache, du hast das ganze unbeschadet überstanden. Rip Masters hat auch schon angerufen und nach dir gefragt.« »Wieso das denn? Er wusste doch gar nicht, dass ich heute wiederkomme, oder?«
»Doch, wusste er. Er hatte uns vor ein paar Tagen gefragt, weil er heute sowieso in Hannover zu tun hatte, und hätte dich dann am Flughafen abgeholt - wenn du planmäßig
angekommen wärst.« Ich grinste. »Wäre bestimmt eine nette Fahrt geworden.« Rip war immer zu Späßen aufgelegt.

Nach einer kurzen Pause fragte ich meinen Vater: »Wo ist Janosch eigentlich? Ich habe ihn die ganze Zeit noch nicht gesehen.« »Rip war vorhin hier und hat ihn mitgenommen.
Er hätte sowieso einen Termin bei ihm gehabt, und ich war ganz froh, dass er nicht mitbekommt, was wir uns für Sorgen um dich machen. Kommst du essen?
Mum hat extra Irish Stew gemacht.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging aus der Tür. Ich schüttelte nur den Kopf. Das war mal wieder typisch mein Vater - wir haben Janosch kurzzeitig aus dem Weg geschafft, kommst du essen? Ich regte mich jedoch nicht mehr darüber auf - die Zeiten waren vorbei. Mittlerweile hatte ich nur noch resigniert, zumindest in diesem Punkt. Na ja, dann würde ich Janosch nachher eben abholen,
wenn die Pläne nicht noch weiter durcheinandergeraten würden.

Das Essen meiner Mutter war wie immer hervorragend. Wir sprachen wenig, bis mein Vater schließlich sagte: »Sag' mal, ist es dir recht, wenn wir nachher noch weggehen? Ich habe noch einen geschäftlichen Termin und würde deine Mutter gern mitnehmen. Du müsstest allerdings auf den Kleinen aufpassen.« Ich räusperte mich. »Dad, der Kleine ist mittlerweile 14 Jahre alt und könnte gut auf sich selbst aufpassen. Aber da ich sowieso noch nichts vorhabe, könnt Ihr gern weggehen. Schließlich habe ich Janosch auch zwei Wochen nicht gesehen, und ich denke, wir haben uns viel zu erzählen.« Den letzten Satz hatte ich hinzugefügt, um etwas die Schärfe herauszunehmen - der Blick, den mir meine Mutter zugeworfen hatte, sprach Bände: »Um Himmels willen, streitet Euch doch nicht schon wieder.«, war wohl die kürzeste Interpretation.

Gegen halb acht brachte Rip schließlich Janosch vorbei und schaute noch kurz bei mir rein. »Hey Luke. Na, alle Knochen noch beisammen?«, fragte er, als er hereinkam. Ich grinste. »Na klar doch, ich will Dir ja nicht unnötig Arbeit machen.« Rip grinste zurück. »Och, da ist sowieso nicht mehr so viel zu retten, glaube ich. Aber mal im Ernst: Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte er. Ich erzählte ihm das Ganze in Kurzfassung. Als ich den Namen 'Roland Westermann' erwähnte, stutzte er. »Der Anwalt?«, fragte er. Ich nickte. »Ja, genau. Kennst du ihn.« Rip nickte. »Ja. Er hat mir damals geholfen, die ganze Sache mit Nick über die Bühne zu bringen.« [Anmerkung des Autors: 'Die Sache mit Nick' schließt sich an die Ereignisse an, die in der Story 'Jason' geschildert werden. Sie wurde jedoch - bisher - nicht schriftlich festgehalten. ]

Ich zuckte die Schultern und grinste. »Tja, die Welt ist nun mal ein Dorf.« Rip gab mir die Hand. »Ich will dich nicht länger aufhalten - Janosch kann es kaum noch erwarten, dich endlich wiederzusehen. Sag mal ... da fällt mir gerade ein, hat er in letzter Zeit Probleme mit Eurem Vater?«, fragte er. »Äh ... ein wenig, wieso?« »Er deutete so was an. Vielleicht kannst Du mal mit ihm reden? Wenn ich mich einmische, regt Jochen sich immer gleich so auf.«, schlug Rip vor. Jochen war unser Vater. Ich zog die Augenbrauen hoch. »Glaub' mir, das habe ich schon versucht. Aber ... keine Chance. Manchmal ist der Kleine noch sturer als ich.« Rip grinste. »Das muss in der Familie liegen. Bis die Tage, Luke.« »Bis dann.« Rip schloss die Tür hinter sich, was ich allerdings kaum noch mitbekam - ich war schon wieder in Gedanken versunken.

Ich dachte über das nach, was Rip gesagt hatte. Wenn es schon so weit war, dass sich andere über die Situation Gedanken machten, war es wohl mehr als kritisch. Ich beschloss, erst mal nach Janosch zu sehen. Als ich vor seinem Zimmer stand, hörte ich die leise, aber eindringliche Stimme meines Vaters: »Denk' einfach daran, niemandem etwas zu erzählen, und es wird dir bestens gehen. Vielleicht hilft dir das hier ja bei der Entscheidung.
« Ich hörte das Rascheln von Papier, dann die Schritte meines Vaters.
Ohne zu zögern glitt ich in die nächste Tür - das Arbeitszimmer meiner Mutter. Als ich sicher war, dass mein Vater außer Hörweite war, ging ich in Janoschs Zimmer. Er war völlig in Gedanken versunken, eine Träne lief ihm über die Wange, und er starrte auf ... zwei Geldscheine, Hunderter.
Er hielt sie in der Hand, als wüsste er gar nicht, wie sie dort hingekommen waren.

Ein schrecklicher Verdacht beschlich mich. Ich hatte immer noch im Hinterkopf, dass Dad Janosch schon öfter geschlagen hatte. War es etwa wieder passiert, und wollte er es diesmal auf diesem Wege aus der Welt schaffen? Aber ich traute Dad eigentlich nicht zu, dass er so weit gehen würde. Ich räusperte mich. »Hey, Kleiner.« Er erschrak und sah zu mir auf. »Luke!« Einen Moment lang sah er zwischen mir und dem Geld hin und her, dann legte er die Scheine beiseite und kam auf mich zu. Er zögerte, und dann fiel er mir schluchzend in die Arme. »Luke!« Ich hab' Dich so vermisst!» Ich streichelte ihm beruhigend über die Schultern. «Hey, ist ja alles okay - oder glaubst Du etwa, ich würde meinen Lieblingsbruder hängen lassen?»

»Janosch, Lucas - wir fahren los. Bis nachher«, rief meine Mutter von unten. »Wann seid ihr wieder da?«, rief ich zurück. »Nicht vor ein Uhr, denke ich. Macht keine Dummheiten.« »Wir doch nicht ... viel Spaß«, rief ich zurück. Die Haustür klappte zu, und dann hörte ich, wie der Motor des Wagens gestartet wurde. Ich legte Janosch den Arm um die Schulter. »Komm, wie gehen nach unten, da haben wir Ruhe.« Ich betrachtete ihn näher. Normalerweise war Janosch von einer klassischen Schönheit. Er hatte dunkelbraune, fast schwarze Haare, dazu wunderschöne blaue Augen - sehr helle und klare Augen. Seine Gesichtszüge waren noch recht weich - sie wirkten fast feminin. Das schob ich auf sein Alter, schließlich war er erst vierzehn. Meine Eltern und ich hatten recht kantige Gesichtszüge. Dank Rip Masters' Hilfe hatte Janosch mittlerweile ein unheimlich süßes Lächeln, und ich wusste, dass schon einige Mädchen hinter ihm her gewesen waren.

Von seinem guten Aussehen war allerdings momentan nicht viel übrig. Das Auffälligste waren die dunklen Ringe unter seinen Augen, er sah unheimlich müde aus. Dazu der Blick ... seine Augen, wie gesagt normalerweise hell und lebendig, wirkten fast ein wenig verschleiert. Man hätte meinen können, dass er unter Drogen steht, aber erstens war er den ganzen Nachmittag bei Rip gewesen und zweitens wusste ich, dass er keine Drogen nahm - er hatte zwar hin und wieder mal eine Zigarette geraucht (es war mir einfach zu blöd, ihm das zu verbieten, schließlich war ich sein Bruder), aber von allem anderen ließ er zum Glück die Finger. Diese Möglichkeit schied aus, also musste das alles einen anderen Grund haben.

Wir setzten uns ins Wohnzimmer, ich holte uns eine Flasche Cola und zwei Gläser. Dann nahm ich auf dem Sofa Platz. Janosch blickte ein paar Mal zwischen dem Sessel und dem Sofa hin und her, bis er schließlich fragte: »Darf ich mich zu dir setzen?« Ich nickte. »Klar doch.« Spätestens jetzt wurde ich richtig stutzig. Alles andere konnte ich mir mehr oder weniger noch erklären - oder zumindest zusammenreimen - aber das mein eigener Bruder mich fragte, wo er sich in unserem Haus hinsetzen durfte, erschien mir mehr als ungewöhnlich. Es konnte Nervosität sein, aber ich hatte das Gefühl, als steckte mehr dahinter. Ich beschloss, erst mal nicht mit der Tür ins Haus zu fallen.

»Wie war deine Woche?«, fragte ich ihn. Er lächelte schwach. »Ganz nett. Ich hab' dich vermisst.« »Ich dich auch«, sagte ich. Janosch erzählte weiter: »Rip hat jetzt einen Hund. Einen Deutschen Schäferhund. Ein ganz lieber, er stürzt sich sofort auf jeden, der ihm über den Weg läuft.« Ich war verblüfft - Ripley Masters als Hundehalter? Das war etwas, dass ich mir nun gar nicht vorstellen konnte. »Warte mal, ich bin gleich wieder da.« Er stand auf und rannte nach oben. Ich lächelte ... innerlich bedauerte ich manchmal, was einem in der Jugendzeit alles verloren ging. Unter anderem die Spontaneität, die mir fehlte und die ich an Janosch so liebte. Ich weiß, das hört sich blöd an, aber mir fiel der Unterschied immer wieder auf. Auch wenn ich mit meinen 19 Jahren nur fünf Jahre älter war als Janosch.

Er kam wieder nach unten und drückte mir ein paar Polaroid-Fotos in die Hand. Er selbst war drauf, Richie, Nick und Richies Freund - und der Hund natürlich. Die fünf tobten ausgelassen im Garten herum, und Janosch strahlte über das ganze Gesicht - zumindest auf den Fotos. »Und, wie heißt er?«, fragte ich. »Rinty.«, antwortete Janosch. »Rinty? Warte mal ... den kenn' ich nur aus dieser Fernsehserie, Katts and Dog.« Janosch grinste frech. »Rip hat mir das ganze erklärt - er selbst hat seinen Namen aus einer Buchserie namens 'Rin Tin Tin', da gab es einen Lieutenant Ripley Masters. Und die Hauptfigur in diesem Buch war ein Hund namens Rin Tin Tin oder genannt Rinty.« Das war mal wieder typisch für Rip ... außerdem wusste ich jetzt endlich, wie er zu seinem Namen gekommen war. Ich hatte immer auf die englische Grafschaft Ripley in der Nähe von London getippt.

»Und was war sonst noch so? Hast Du die letzten Schultage überstanden?« »Na ja ... mehr oder weniger. Es war nicht viel los, wie immer vor den Ferien. Drei Leute waren auch schon vorher nicht da, denen war das egal.« Ich lächelte. »Und mein Bruder hat jetzt schon seinen ersten Schulabschluss in der Tasche ... ich kann's immer noch nicht glauben.« Nach einer kurzen Pause fügte ich grinsend hinzu: »Ich spar' mir jetzt aber die Frage, wie das Zeugnis ausgefallen ist - die werden Oma und Opa dir wahrscheinlich auch schon gestellt haben.« Janosch nickte. »Das kennst du ja auch noch bestens.« »Ja, aber ich hab' das ganze hinter mir«, sagte ich lachend.

Janosch sah mich einen Moment an, dann nahm er mich ganz unvermittelt in den Arm. »Mensch, Lucas, schön, dass Du wieder da bist. Du glaubst gar nicht, wie du mir gefehlt hast.« Seine Schultern bebten, und ich merkte, dass er beinahe heulte. Ich streichelte ihm sanft über die Schultern. »Hey, ist ja alles okay. Was ist denn los mit dir?« Eine Weile saßen wir einfach schweigend beisammen, ich hielt ihn im Arm und versuchte, ihn ein bisschen zu trösten. Schließlich hatte er sich wieder halbwegs beruhigt. »Hast ... hast Du zufällig Zigaretten dabei?«, fragte er mich. Ich gab ihm wortlos die Schachtel und das Feuerzeug. »Danke.« Er zündete sich eine Zigarette an und legte dann beides wieder auf den Tisch.

»Janosch, was ist los mit dir? Hat das irgendwas mit dem Geld zu tun, dass Dad Dir vorhin gegeben hat?«, fragte ich ihn. Er sah mich erschrocken an. »Hast du gelauscht?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht absichtlich. Ich wollte nur gerade anklopfen, als ich gehört habe, dass Dad bei dir ist und dir irgendwas gegeben hat - er sagte was von 'Vielleicht hilft dir das ja bei deiner Entscheidung'. Und als ich dann 'reingekommen bin, hattest du die Geldscheine in der Hand. Den Rest konnte ich mir dann ziemlich problemlos zusammenreimen.« Eine Weile saß Janosch schweigend da, rauchte seine Zigarette zu Ende und überlegte offensichtlich was er sagen sollte. Dann meinte er: »Wenn ich dir erzähle, was passiert ist, glaubst du mir das sowieso nicht.«

Ich zögerte. »Wieso sollte ich dir nicht glauben? Hat Dad dich wieder verprügelt?« Er sah mich abfällig an. »Wenn es nur das wäre.« Typisch Janosch. Aber normalerweise ging er mir gegenüber nur dann in eine Abwehrhaltung, wenn er Angst vor etwas hatte. Vor mir wohl kaum. Also doch vor Dad? Ich versuchte, ihn die Hand auf die Schulter zu legen, um ihn zu beruhigen - doch er ließ mich nicht an sich heran. »Wenn nicht mal du mich verstehst, wer denn dann?« Sein Blick war eine Mischung aus Hass und Enttäuschung. Und ganz langsam keimte in mir ein leiser Verdacht auf - der Verdacht, dass Dad Janosch vielleicht nicht nur geschlagen hatte.

Ich versuchte es noch einmal in einem ruhigen Ton. »Janosch, bitte. Ich werde dir helfen, wenn ich es irgendwie kann - das verspreche ich dir. Aber du musst mir sagen, was los ist.« Ich spürte, dass Janosch einen innerlichen Kampf ausfocht. Einerseits wollte er seine Abwehrhaltung nicht aufgeben, andererseits hatte er einfach keine Kraft mehr. Ich kannte meinen Bruder gut genug, um zu wissen, wann er am Ende war. »Ich kann nicht!«, schrie er und sprang auf. Wie ein gereizter Tiger lief er hin und her.

Langsam war ich mit meinem Latein am Ende. Ich kannte Janosch seit über vierzehn Jahren, aber so hatte ich ihn noch nie erlebt. Auch ich stand langsam auf und versuchte, ihm in die Augen zu sehen. »Bitte, beruhig' dich doch.« Ab hier konnte ich mich nur noch wiederholen. Mir fiel einfach nichts mehr ein. Janosch sah mich verzweifelt an. Dann sagte er mit heiserer Stimme: »Was soll's ... es hat sowieso keinen Sinn mehr.« Er zog sich sein T-Shirt aus, warf es hinter sich aufs Sofa, setzte sich hin - und fing an zu weinen. Jetzt hatte er endgültig die Selbstbeherrschung verloren.

Und ich sah auch warum. Auf seinem Rücken waren einige rote Flecken - nicht größer als ein Pfennigstück. Ein paar davon saßen ziemlich dicht über dem Hosenbund. »Was ist das?«, fragte ich ihn. »Schau' genauer hin«, schluchzte er knapp. Ich fasste ihn vorsichtig bei den Schultern, und schon zuckte er zusammen. Ich nahm die Hände weg, konnte aber nichts entdecken. »Dreh' dich bitte mal etwas mehr ins Licht«, bat ich ihn. Jetzt konnte ich sehen, was er meinte - die Flecken waren offensichtlich Brandwunden, und von der Größe her würde ich fast auf ... Zigaretten schließen. Mir drehte sich fast der Magen um, als mir das klar wurde.

»Dad?« Er nickte. »Ach du sch.....«, war alles, was mir in dieser Sekunde noch dazu einfiel. Ich hatte schon einiges von meinem Vater erlebt, und ich denke, ein paar Mal war es reines Glück, dass Janosch nicht ernsthaft verletzt wurde, weil ich dazwischen gegangen bin oder Mum zufällig in der Nähe war, aber das hätte ich ihm doch nicht zugetraut. Ich streifte Janosch vorsichtig das T-Shirt wieder über und nahm ihn in die Arme. Ich hatte das Gefühl, als ließ er in diesem Moment alles aus sich heraus, was ihn in den letzten Wochen bedrückt hatte. »Warum hat er das getan?«, fragte ich schließlich. Janosch stand auf. »Komm mit«, sagte er nur. Ich folgte ihm, ins Arbeitszimmer von unserem Vater.

»Du weißt, wo Dad den zweiten Schlüssel für den Aktenschrank aufbewahrt?«, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab' ihn nie danach gefragt.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich ihn auch nicht.« Er ging ans Bücherregal, griff zielsicher nach einem Buch und öffnete es. Der Schlüssel steckte im Einband. Janosch nahm ihn heraus und gab ihn mir. »Schau' mal im untersten Fach, hinter den Hängemappen.« »Äh ... Janosch, was soll das ganze? Du weißt, dass ich es nicht mag, in den Sachen anderer Leute herumzuschnüffeln.«

Statt einer Antwort nahm er mir den Schlüssel wieder aus der Hand, steckte ihn zurück ins Buch und stellte dieses wieder ins Regal. »Wenn du wissen willst, was los ist, musst du schon selbst nachsehen.« Mit diesen Worten ging er aus dem Zimmer. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich dachte, du wolltest mir helfen.« Dann war er endgültig verschwunden. Ich schwankte. Einerseits widerstrebte es mir, in Dads Sachen herumzuschnüffeln, andererseits war mir völlig klar, dass etwas in der Luft lag. Und ich hatte Janosch noch nie so erlebt wie gerade eben. Er hatte mich angeschrien - das war vorher noch nie passiert.

Am Ende musste ich doch nicht allzu lange überlegen. Janoschs Verhalten sprach Bände, also schaute ich nach. Im besagten Fach befanden sich eine Reihe von Mappen - Unterlagen aus Dads Firma, mit denen ich sowieso nichts anfangen konnte. Janosch hatte gesagt, ich sollte hinter den Mappen nachsehen. Alles, was ich fand, waren ein paar Videocassetten ohne Etikett. Das musste wohl das sein, was Janosch meinte. Ich nahm eine Cassette mit und warf einen Blick auf die Uhr - es war kurz nach halb neun, ich hatte also noch genug Zeit. Vorsichtshalber legte ich alles wieder so hin, wie es war, und ging dann mit der Cassette nach oben. Natürlich musste sie erst zurückgespult werden ... ich legte sie in den Recorder und drückte die entsprechende Taste. Schließlich lief der Film an - beziehungsweise die letzten Reste der Tagesschau. Dann kam der Vorspann zu einem James-Bond-Film. Ich konnte nichts Besonderes an diesem Film entdecken und spulte etwas vor, bis zum Ende des Films. Das Wort zum Sonntag interessierte mich auch nicht besonders.

Ich wollte gerade die Cassette herausnehmen, als ein scharfer Bildschnitt erfolgte. Was jetzt kam, war offensichtlich mit einer Videokamera aufgenommen - man sah es an der Bildqualität und an der unten eingeblendeten Uhrzeit. Wenn das Datum stimmte, war dieser Film erst vor ein paar Tagen aufgenommen worden. Offensichtlich war dies das Schlafzimmer meiner Eltern ... mir war etwas unwohl. Ich wusste ja nicht, wie sie ihr Sexleben gestalteten, aber es interessierte mich ehrlich gesagt auch nicht besonders, was sie miteinander trieben. Ich beschloss, trotzdem einen Blick auf das Band zu werfen - rechtzeitig abschalten konnte ich ja immer noch.

Die Kamera schwenkte langsam vom Fenster - mit geschlossenen Vorhängen - zum Bett. Auf dem Bett saß ... Janosch. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen und sah ziemlich verängstigt aus, außerdem hatte er nichts an. Ich hörte die Stimme meines Vaters im Hintergrund. »Keine Angst, dir wird nichts passieren.« Er kam von der Seite ins Bild, ebenfalls nackt, und legte sich aufs Bett. Dann zog er Janosch zu sich heran. Was nun folgte, konnte ich einfach nicht glauben. Mein Vater ... verging sich an seinem eigenen Sohn. Mit zitternden Händen schaltete ich den Videorecorder aus. Ich war sprachlos. Dass mein Vater auf Sex mit Kindern stand, war eine Sache, die mich einfach nur entsetzte. Aber dass er sich dazu auch noch Janosch ausgesucht hatte, machte mich rasend vor Wut. Diese ohnmächtige Wut überfiel mich schlagartig. Am liebsten hätte ich alles um mich herum kurz und klein geschlagen. Unter diesen Umständen war es natürlich kein Wunder, dass Janosch so verstört war. Und jetzt konnte ich mir auch erklären, warum er vorhin so zusammengezuckt war, als ich seine nackten Schultern berührt hatte.

Ich versuchte, mich erst mal etwas zu beruhigen. Zum Glück waren meine Eltern momentan nicht, da ... ich wußte, wo mein Vater eine Pistole aufbewahrte, und ich glaube, in diesem Moment hätte ich von diesem Wissen Gebrauch gemacht. Doch das alles brachte in diesem Moment sowieso nichts. Ich ging zu Janosch Zimmer und klopfte an. »Was ist?«, fragte er - offensichtlich mit tränenerstickter Stimme. »Darf ich 'reinkommen?«, fragte ich. »Ja.« Er saß auf seinem Bett - in einer ähnlichen Pose wie auf dem Video, klein in der Ecke und regelrecht zusammengerollt. Ich setzte mich zu ihm. Er sah mich durch seine verweinten Augen halb fragend, halb erwartungsvoll an. »Und jetzt?« Ich schluckte. »Ich hab' die Cassetten gefunden.«

Wir beide schwiegen lange. »Und ... glaubst du, dass es wahr ist?« Ich nickte langsam. »Ich wünschte, ich könnte 'Nein' sagen, aber es gibt einfach zu viel, was dafür spricht.« Ich wartete, wie Janosch reagieren würde. Nichts. Ich ging die paar Schritte in seine Richtung und nahm ihn in die Arme. Er ließ sich gehen, ich spürte, wie er zitterte. Aber er fing nicht an, zu heulen - offensichtlich wollte er sich auch jetzt noch nicht anmerken lassen, wie es ihm ging. Ich spürte in diesem Moment eine Zuneigung zu ihm, wie ich sie vorher nie gefühlt hatte. Niemand hatte das Recht, dafür zu sorgen, dass es um jemanden so schlimm stand wie in diesem Moment um Janosch. In diesem Moment schwor ich mir, dass mein Vater für das ganze teuer bezahlen würde. Ich wusste noch nicht wie, aber ich würde dafür sorgen.

Jetzt ging es jedoch erst einmal darum, Janosch zu helfen. Er war praktisch nur noch ein Häufchen Elend in meinem Armen. Ich hielt ihn fest und versuchte ihn zu trösten, so gut es ging. Schließlich fragte er: »Luke, was können wir jetzt machen? Können wir überhaupt was machen?« Ich nickte. »Ja, da bin ich mir ziemlich sicher.« Nach einer kurzen Pause fügte ich mit einem zuversichtlichen Lächeln hinzu: »Streich' das 'ziemlich'.« »Und wer soll uns helfen? Wird mir überhaupt jemand glauben? Ich will nicht, dass noch irgendjemand das Video sieht.«

»Ich werde versuchen, das zu vermeiden, wenn es geht. Ansonsten kenne ich mindestens eine Person, die dir auf jeden Fall glauben wird. Einer unserer besten Freunde, oder besser gesagt: der Vater unserer besten Freunde.« Er sah mich überrascht an. »Du spricht von Rip Masters.« Das war definitiv mehr eine Feststellung als eine Frage. »Luke, ich bitte dich ... Rip ist Zahnarzt, aber kein Rechtsanwalt.« Ich konnte mir ein leises Lächeln nicht verkneifen - das war wieder mal typisch mein Bruder. Vor ein paar Minuten war er noch völlig am Boden, und jetzt diskutierte er mit mir die verbliebenen Möglichkeiten.

»Das weiß ich, aber neben deinem Zahnarzt ist Rip auch ein verdammt guter Freund von uns. Und wenn uns jemand außerhalb der Familie helfen kann, dann er. Er hat die Möglichkeiten, er kennt jede Menge Leute. Vergiss' nicht, dass Mum nie etwas mitbekommen hat, sie weiß nichts. Sie wird sich mit Sicherheit erst mal auf die Seite von Dad stellen. Zwar nicht für lange, aber ich denke, so wird es sein. Außerdem ist das für Rip nicht das erste Mal, dass er damit konfrontiert wird ...« »... mit sexuellem Missbrauch.« Es war das erste Mal, dass Janosch diese Worte wirklich benutzt hatte. Sie hingen in der Luft wie ein Peitschenknall.

Janosch, der sich gerade wieder etwas gefangen hatte, brach nun endgültig zusammen. Er heulte hemmungslos und war sichtlich am Ende seiner Kräfte. Ich spürte, wie die Wut auf meinen sogenannten Vater noch weiter wuchs. Ich spürte puren Hass in mir aufwallen. Außerdem musste ich mich erst daran gewöhnen, dass Janosch' Stimmung so plötzlich umschlug. Früher war er immer ziemlich ausgeglichen gewesen. Aber in Anbetracht der Umstände war es kein Wunder, dass es ihm so schlecht ging. Und mir fiel noch etwas ein.

»Janosch, darf ich dich mal was fragen?« Er nickte. »Was denn?« »War das ... was da auf dem Video passiert ist ... war es das erste Mal?« Er schüttelte nur den Kopf. Das reichte mir. »Okay. Pack' Dir ein paar Sachen zusammen, Klamotten und so, ich mache dasselbe und in einer halben Stunde sind wir beide hier verschwunden.« »Und wohin?« »Zu Rip. Da können wir zumindest für ein paar Tage bleiben - ich glaube nicht, dass Rip etwas dagegen haben wird, spätestens wenn wir ihm das ganze erklären.« Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging in mein Zimmer, um zu packen.

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4. Kapitel

Zunächst griff ich jedoch zum Telefon und wählte die Nummer von Richie. »Wer glockt zu dieser Tageszeit?«, meldete der sich. »Richie, ich bins - Luke. Äh ... habt Ihr zwei heute Abend schon was vor?« »Eigentlich nichts außer einem gemütlichen Videoabend zu zweit. Aber Du klingst nicht gerade, als ob Du mit uns ein Bier trinken gehen willst?«, antwortete er. »Nicht wirklich. Habt Ihr zufällig noch zwei Betten frei?« Jetzt klang er wirklich erstaunt. »Ist euer Haus abgebrannt, oder was ist los?« »Nicht direkt. Ich erklär' Dir das ganze später, Janosch und ich können auf jeden Fall heute Nacht nicht zuhause schlafen.«

Spätestens jetzt wurde Richie ernst. »Okay, kein Problem.« »Und noch was, ist Rip zuhause?« »Ja, ist gerade wiedergekommen«, antwortete Richie. »Super. Tu' mir bitte den Gefallen und halte ihn fest, bis wir bei Euch sind - ich denke, wir sind so in einer halben Stunde da, vielleicht etwas später.« »Okay, bis dann. Und ... danke, Richie.« »Wofür?« »Dafür, dass Du im richtigen Moment nicht zu viele Fragen stellst.« Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie er abwinkte. »Dafür kenne ich Dich mittlerweile gut genug - wenn etwas dringend ist, dann merkt man Dir das an. Bis nachher.« Es klickte, er hatte aufgelegt.

Ich war dabei, meine Sachen zusammenzupacken und suchte meinen Rasierer. Der steckte noch im Koffer ... zwei Katastrophen an einem Tag, nur: diese hier würde nicht so glimpflich ausgehen. Ich überlegte einen Moment, warum ich das Ganze miteinander in Verbindung brachte, beschloss dann aber, dass es wohl am Tag liegen müsste. Kaum hatte ich fertig gepackt - das Video hätte ich beinahe vergessen -, kam Janosch herein. »Und nun?« »Ab ins Auto, wie fahren zu Rip.« Wir schnappten uns unsere Taschen und machten uns auf den Weg. Mum hatte mir erlaubt, ihren Wagen zu benutzen, solange ich das Benzin bezahlte. Aber darüber machte ich mir keine Gedanken - zum Glück war der Tank noch voll.

Was kümmerten mich solche Kleinigkeiten eigentlich? Der Sprit oder das Geld dafür war für mich eigentlich genau interessant wie die Lage des neunundzwanzigsten Reissacks im Hafen von Peking oder die Verkaufszahlen der letzten Platte Mozart 143. Sinfonie in der Neuaufnahme mit dem Orchester von Nowosibirsk - sie interessierten mich einfach nicht. Was mich interessierte, war Janosch. Ich war völlig durcheinander und musste mich zusammenreißen, um mich halbwegs auf den Verkehr konzentrieren zu können. Was ich brauchte - zumindest im Moment - war Ablenkung. Wir fuhren los. Janosch stellte das Radio an und fragte mich dann: »Was ist eigentlich heute Vormittag mit deinem Flugzeug passiert?« Die ganze Sache hatte ich schon fast wieder vergessen. Ich erzählte ihm das ganze, bis er mich plötzlich unterbrach: »Was war dieser Westermann noch gleich von Beruf?« »Rechtsanwalt, für Fami...« ...lienrecht, sollte der Satz enden. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: das war unser Mann. Er war Spezialist auf dem Gebiet, und er hatte schon selbst Erfahrungen gemacht - wenn jemand nachvollziehen konnte, wie es Janosch im Moment ging, dann er. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, waren wir auch schon bei Rip angekommen.

Wir stiegen aus dem Auto. Kaum standen wir, kam aus der Dunkelheit ein dunkler Schatten auf uns zugeschossen. Janosch lächelte und beugte sich herab. »Hey, Rinty. Na, Kleiner, wie geht's Dir?« Statt einer Antwort schleckte Rinty Janosch das Gesicht ab und inspizierte mich dann. Janosch stellte uns pro forma einander vor - auch wenn ich bis heute denke, dass Rinty davon kein Wort verstanden hatte. Aber hier kam eben noch das Kind in Janosch durch. Rinty kam auf mich zu, beschnüffelte mich etwas, ließ sich von mir streicheln und schleckte mir dann die Hand ab. Von hinten ertönte plötzlich ein Lachen: »Und schon wieder hast du einen Freund fürs Leben, Luke.« Ich drehte mich um. »Hey, Richie. Lange nicht gesehen.« Wir nahmen uns zur Begrüßung kurz in den Arm.

Richie lachte immer noch. »Tja, und doch wiedererkannt. Na, wie geht's dir?« Ich winkte ab. »Na ja, geht so. Und euch?« Ich brauchte ihn und Jason nur anzusehen um zu wissen, dass ich mir die Frage sparen konnte. »Okay, alles klar.« »Dad ist oben«, sagte Richie dann - offensichtlich hatte er gemerkt, dass ich gerade nicht in der Stimmung für eine belanglose Plauderei war. Ich nickte. »Danke, wir gehen sofort hoch.« Richie nahm mich noch kurz beiseite. »Sag' mal, was ist denn mit Janosch los? Er sieht aus, als ob er die letzte Stunde nur geheult hätte.« Ich nickte. »Das kommt hin, aber das erklär' ich dir in Ruhe. Sei' mir nicht böse, aber ich weiß momentan selbst noch nicht so genau, wie das eigentlich weitergehen soll.«

Janosch und ich gingen nach oben. In Ripleys Büro herrschte wie immer das Chaos. Rip saß an seinem PC, um sich herum hatte er jede Menge Unterlagen gestapelt. Der ganze Raum wurde dominiert von einem riesigen Schreibtisch - ein Stahlgestell mit einer Platte, die ungefähr die Stärke von Panzerglas hatte. Auch darauf lagen jede Menge Unterlagen, ebenso auf dem flachen Couchtisch in der Ecke - Ripleys Lieblingsecke zum Entspannen. An der Tür hing ein Schild mit dem Spruch: »Wo ich bin, ist das Chaos, aber ich kann nicht überall sein.« Rip selbst saß wie gesagt vor dem Schreibtisch, mit offenem Hemdkragen, hochgekrempelten Ärmeln, einer Zigarette im Mundwinkel und völlig in seine Arbeit vertieft. Als ich mich räusperte, blickte er auf. »Luke, Janosch - Richie hat mich schon vorgewarnt. Was ist denn mit euch los?«

Dann sah er sich Janosch genauer an, dem die letzten zwei Stunden ziemlich deutlich ins Gesicht geschrieben standen. »Okay, setzt euch erst mal hin. Kaffee?« Wir nickten stumm. Rip zauberte unter dem Chaos drei saubere Kaffeebecher hervor und goss sie mit seinem schwarzen Gebräu voll - der Farbe nach zu urteilen hatte Richie ihn gekocht, dann konnte man nämlich fast den Löffel in den Kaffee stellen. Ich füllte meine Tasse mit der entsprechenden Menge an Milch auf und schüttete Janosch noch etwas mehr hinein - in seinem jetzigen Zustand war ein Koffeinschock das Letzte, was er gebrauchen konnte, und bei Richies Kaffee war diese Gefahr nie ganz auszuschließen.

Rip räumte ein paar Unterlagen vom Tisch und setzte sich dann zu uns. »So, jetzt erzählt erst mal in Ruhe, was passiert ist.« Ich nickte langsam. »Rip, wie gut kennst du Dad eigentlich?« Er runzelte die Stirn. »Jochen? Hm ... wir haben seit ungefähr fünfzehn Jahren beruflich miteinander zu tun, ich war schon oft genug bei euch, ihr alle bei uns, gerade in den letzten Jahren. Gegenfrage: Worauf willst Du hinaus?« Janosch und ich wechselten einen Blick, dann bedeutete mir Janosch, dass ich weiterreden sollte. »Könntest ... könntest du dir vorstellen, dass Dad einem anderen Menschen etwas zuleide tun könnte?«

Rip schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht.« Bevor er weiterreden konnte, sah mich Janosch niedergeschlagen an. »Siehst du.« Ich legte Janosch vorsichtig meinen Arm um die Schultern und flüsterte ihm ins Ohr. »Langsam, er hat noch gar nicht gehört, was los ist. Soll ich es ihm erzählen?« Janosch sah mich zweifelnd an. »Luke, ich glaube nicht, dass das noch etwas bringt.« Rip räusperte sich. »Würdet ihr mir bitte endlich mal erzählen, was los ist?« Ich hob die Hand. »Moment.« Dann wandte ich mich wieder Janosch zu. »Soll ich allein mit Rip reden? Dann kannst Du solange zu Jason und Richie 'runtergehen.« Er nickte. »Okay, ist vielleicht besser.« Ich stand auf. »Rip, ich bringe Janosch schnell nach unten, ich bin gleich wieder da.« Rip nickte nur. »Okay.«

Die beiden waren - wie erwartet - im Probenraum, Nick war auch bei ihnen. Er begrüßte uns erfreut. »Hey, Jungs, schön Euch mal wiederzusehen.« »Habt ihr euch heute Nachmittag nicht schon gesehen?«, fragte ich etwas erstaunt. Nick schüttelte den Kopf. »Nein, ich war in der Stadt unterwegs.« Ich wandte mich auch an Jason und Richie. »Könnt Ihr Janosch noch irgendwie bei Euch unterbringen? Ich hab' was mit Rip zu besprechen.« Richie schüttelte den Kopf. »Oh Mann, Luke, aus dir soll noch einer schlau werden.« Bevor ich irgend etwas sagen konnte, drückte Jason Janosch die Drumsticks in die Hand. »Hier, das war doch beim letzten Mal dein Lieblingsinstrument.« Janosch lächelte schwach. »Danke.« Jason sah mich einen Moment prüfend an, dann sagte er: »Wir kümmern uns um Janosch, geh' ruhig wieder hoch zu Rip.« Ich zwinkerte ihm zu. »Danke dir.«

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5. Kapitel

Zwei Minuten später saß ich wieder bei Rip im Büro. »So, Lucas, jetzt erzähl' mir bitte endlich, was los ist.« Ich fasste das alles, was bisher seit der Abfahrt meiner Eltern passiert war, zusammen. Rip hörte mir schweigend zu, das Entsetzen stand ihm jedoch deutlich in den Augen. Als ich fertig war, fragte er: »Luke, bist du sicher? Das sind ziemlich harte Anschuldigungen, die können Jochen für Jahre hinter Gitter bringen. Davon abgesehen, dass sein Ruf in jedem Fall zerstört ist, wenn ihr Anzeige erstattet.« Das war die Reaktion, mit der ich gerechnet hatte - schließlich konnte ich es am Anfang ja selbst nicht glauben. »Rip, der Ruf von meinem Vater ist mir mittlerweile ziemlich egal. Ich habe Janosch mit eigenen Augen gesehen, ich habe die Brandwunden auf seinem Körper gesehen. Dieses Schwein hat Zigaretten auf seiner Haut ausgedrückt. Er hat ihn vergewaltigt. Janosch hat sich völlig verändert - das ist dir doch selbst schon aufgefallen, du hast mich erst vor ein paar Stunden darauf angesprochen.«

Ich war in Rage. Rip bedeutete mir mit einer Handbewegung, wieder auf den Teppich zu kommen. »Lucas, beruhige dich bitte. Du weißt, dass das kein Misstrauen gegen euch war. Nur - bevor einer von uns überhaupt etwas unternimmt, müssen wir sichergehen, dass da überhaupt etwas dran ist.« Ich atmete tief durch. »Ich habe ein Video im Wagen, Dad hat vor ein paar Tagen offensichtlich die Kamera mitlaufen lassen. Willst du es sehen?« Im selben Moment fiel mir ein, dass ich Janosch versprochen hatte, das Video niemandem zu zeigen, wenn es sich vermeiden ließ. Zum Glück wollte Rip sich nicht selbst von der Existenz des Bandes oder seinem Inhalt überzeugen. »Okay. Zuerst mal das Wichtigste: Ich glaube euch. Und dass irgendetwas mit Janosch nicht in Ordnung war, ist mir auch schon länger aufgefallen.« »Woran?« fragte ich knapp. »Erstens reagierte er immer empfindlicher auf Körperkontakt. Ich habe ihm öfter mal in der Praxis eine Hand auf die Schulter oder auf den Arm gelegt, wenn ich gemerkt habe, dass er Angst hatte. Das ist eigentlich völlig normal. Jedenfalls hat er sich in letzter Zeit immer mehr zusammengerissen. Ich dachte erst, dass er seine Angst einfach überwunden hätte.

Dann hat mir Richie erzählt, dass ihm das auch schon aufgefallen ist. Du warst selbst früher dabei, wenn ihr draußen im Garten herumgetobt seid. Dabei ist es zwar nicht immer ruhig zugegangen, aber es hat sich auch nie jemand beschwert. Und in letzter Zeit ist Janosch jeglichem Körperkontakt aus dem Weg gegangen. Das habe ich aber zunächst auf die Pubertät geschoben, schließlich ist er mittlerweile in dem Alter. Außerdem hat er ziemlich abgenommen. Er war zwar nie besonders kräftig, aber in den letzten Monaten ist er richtig schmächtig geworden.» Ich nickte stumm - es war mir vorhin zwar nicht weiter aufgefallen, weil ich von den Brandmalen zu schockiert war, aber Janosch war in der Tat ziemlich abgemagert. Meistens trug er jedoch weite Sweatshirts, in denen das nicht so auffiel. «Wie soll es jetzt weitergehen?», fragte ich Rip.

Der gab die Frage gleich an mich zurück. »Hast du schon eine Idee?« Ich nickte langsam. »Ich dachte an Dr. Westermann - oder besser gesagt: Janosch dachte daran. Ich habe ihm vorhin erzählt, was heute Vormittag los war, und da hat er mich mit der Nase drauf gestoßen.« Rip nickte. »Okay, das halte ich auch für die beste Idee. Ich kenne Roland, und wenn ich ihn anrufe, wird er sofort dabei sein, das verspreche ich dir.« Ich überlegte einen Moment und beschloss dann, Rip die Frage zu stellen, die mir schon länger auf der Zunge lag: »Warum hattest du eigentlich schon mal mit ihm zu tun?« Rip zündete sich noch eine Zigarette an. »Also, Kurzfassung: Du weißt wahrscheinlich, dass Nick der Halbbruder der anderen ist. Ich habe damals mit seiner Mutter, kurz nach seiner Geburt, die Vereinbarung getroffen, dass ich ihn zu mir nehme, falls ihr irgendwann einmal etwas zustoßen sollte. Wir hätten zwar nie damit gerechnet, aber wir wollten das so. Na ja, wie du dir vielleicht denken kannst, hat sich da die britische Regierung erst mal quer gestellt. Eine Bekannte hat mir dann Roland empfohlen, und er hat das Ganze in die Hand genommen. Es hat keine zehn Wochen gedauert, und Nick durfte hierbleiben. Bis dahin waren sowohl die Briten als auch die deutsche Regierung überzeugt.«

Das ganze erzählte Rip in einem lockeren Plauderton, aber ihm war recht deutlich anzumerken, dass ihm das ziemlich nahe ging - wie alles, was seine Kinder betraf. Ich weiß von Richie, dass er, Jason und Nick seinerzeit nur knapp einen Flugzeugabsturz überlebt haben, und Rip war anschließend wochenlang zu nichts mehr zu gebrauchen. Das war mittlerweile drei Jahre her, und das Einzige, war immer noch an die ganze Sache erinnerte, war Nicks verbrannter Oberkörper und die Urkunden, die alle drei nach der Katastrophe von der Flugsicherheit in New York bekommen hatten. Ein anderes Mal hatte Richie einen Unfall gehabt, als die ganze Familie in Los Angeles war. Dabei hatte er sich einige Rippen gebrochen. Für ihn selbst war das Ganze gar nicht so schlimm gewesen, aber Rip war am rotieren - vor allem, weil Richie und Jason erst mal mit ein paar Freunden Kaffee trinken gegangen waren, als Richie schließlich aus der Notaufnahme entlassen wurde.

Rip klatschte in die Hände. »Okay, auf geht's. Ich rufe Roland an und erkläre ihm das Ganze. Du kannst solange zu Janosch und den anderen gehen, wenn du willst. Und in einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier«, fasste Rip seine Planung zusammen. »Wer ist 'wir'?«, fragte ich. »Du, Janosch, Roland - wenn er es bis dahin schafft - und meine Wenigkeit. Äh ... Luke, noch eine Frage: Wissen eure Eltern eigentlich, was los ist?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe ihnen einen Zettel hingelegt, dass wir zu euch gefahren sind, aber sonst nichts. Janosch hat immer darauf bestanden, dass ich Mum nichts davon erzähle, dass Dad ihn verprügelt. Und alles andere habe ich ja selbst erst vorhin erfahren.« Rip nickte. »Okay. Und ... Lucas, wir bekommen das zusammen in den Griff. Das verspreche ich dir, um Janoschs Willen.« Ich wollte mich bedanken, aber Rip schob mich aus der Tür. »Wir sehen uns gleich.«

Ich ging nach unten und betrat leise den Probenraum. Die kleine Band - bestehend aus Richie, Nick, Jason und Janosch - steckte gerade mitten in einem Stück. Janosch bearbeitete mit Feuereifer die Drums, Richie lächelte ihm aufmunternd zu, während er seinen Bass bearbeitete, und Nick übernahm den Gesang. Jason machte mit dem Keyboard den Rest, und das Ergebnis konnte sich durchaus hören lassen. Als die letzten Töne verklungen waren, fragte Richie: »Na, habt ihr eure Unterredung beendet?« Ich nickte. Janosch sah mich fragend an, und ich zeigte ihm den nach oben gestreckten Daumen - alles okay. Richie stellte seinen Bass in die Ecke, steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel und fragte dann: »Könnt ihr uns jetzt vielleicht mal erzählen, was los ist? Ich will ja nicht neugierig sein, aber ich werde einfach nicht mehr schlau aus euch.«

Ich warf Janosch einen fragenden Blick zu - zum Glück stand er gerade hinter allen anderen. Er schüttelte als Antwort nur den Kopf. »Tut mir leid, Richie. Ich denke, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, werdet ihr alles erfahren, aber momentan geht das einfach noch nicht. Ich kann dich nur bitten, mir nicht böse zu sein - es hat absolut nichts mit euch zu tun, das ganze ist nur einfach zu persönlich.« Richie nickte. »Okay.« Ein paar Minuten standen wir einfach nur herum, ohne dass einer von uns etwas sagte. Schließlich kam Janosch zu mir. »Kann ich kurz mit dir allein reden?« Ich nickte, und wir beiden gingen nach draußen. Auf der Vortreppe des Hauses setzten wir uns hin. »Was hat Rip gesagt?« Ich grinste schwach. »Was glaubst du denn? Natürlich ist er auf unserer Seite.« Janosch atmete erleichtert auf. »Momentan spricht er mit Roland Westermann, der wird gleich vorbeikommen, damit wir alles weitere besprechen können.«

Ich sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten waren vergangen, seit ich wieder nach unten gegangen war. Mittlerweile war es fast halb elf abends. Dieser Tag war einfach nur verrückt. Vor zwölf Stunden hatte ich noch auf dem Flughafen gesessen, und meine größte Sorge war, wie wohl das Essen an Bord der Maschine sein würde. Aber das Thema hatte sich dann ja erledigt. Janosch rutschte etwas dichter an mich heran, ich legte ihm vorsichtig meinen Arm um die Schulter. Ich versuchte dabei, jede Bewegung zu vermeiden, die er missverstehen konnte. Ich hatte zwar mit dem ganzen Thema nicht allzu viel Erfahrung, aber ich hatte seine Reaktionen erlebt und konnte mir ein bisschen was zusammenreimen. Janosch kuschelte sich eng an mich. »Ach, Luke, wenn ich dich nicht hätte ... ich weiß nicht, wie lange ich das noch ausgehalten hätte.«

Ich versuchte, ihm in die Augen zu sehen - mit einigen Verrenkungen gelang mir das auch. »Was soll das denn heißen? Hey, Kleiner, wir werden das zusammen durchstehen, das verspreche ich dir, so wahr wir hier sitzen. Aber bitte versprich mir auch eines.« Er sah mich erwartungsvoll an. »Was denn?« »Egal, was passiert - gib' nicht auf. Ich bin bei dir, jederzeit. Indianerehrenwort. Aber mach' nichts, was du später bereuen könntest.« Ich hoffe, er hatte verstanden was ich meine, und sein Blick sagte mir, dass das der Fall war. »Versprochen.« sagte er dann. Damit nicht genug: er nahm seine Hand, spuckte hinein und hielt sie mir hin. Ich war etwas erstaunt. Etwas mit Spucke beschwören, das hatten wir zuletzt gemacht, als ich zehn oder elf gewesen war. Und dann war es für uns immer etwas ganz Besonderes gewesen. Ich zögerte nicht lange und tat dann dasselbe wie er. Weiter möchte ich mich dazu jedoch nicht auslassen.

Ein Paar Scheinwerfer streifte die Einfahrt, wir hörten einen Wagen vorfahren, eine Tür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen, und dann zuckten zwei orange Lichtblitze über den Rasen - da hatte sich mal wieder jemand ein Auto mit Fernbedienung zugelegt. Ein paar Schritte ... und vor uns stand Roland Westermann, mit einem jungen Mann neben ihm. Roland sah mich erstaunt an. »Lucas? Was machst DU denn hier?« fragte er mich ehrlich verblüfft. Ich zuckte die Schultern. »Es wäre mir auch lieber gewesen, wenn wir uns unter anderen Umständen wiedergetroffen hätten.« Ich gab ihm die Hand, nicht ohne sie vorher noch schnell an meiner Jeans abzuwischen. »Das ist mein kleiner Bruder, Janosch - ich hatte ja heute morgen schon von ihm erzählt.« Roland nickte und gab Janosch dann die Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen - ich bin Roland. Dein Bruder leistet übrigens hervorragend Erste Hilfe.« fügte er dann lächelnd hinzu. Bevor ich etwas sagen konnte, stellte er seinen Begleiter vor: »Das ist Markus, mein Sohn - ich hatte dir ja heute morgen auch schon von ihm erzählt. Markus, das sind Lucas und Janosch ... heißt ihr beide Reilly?« Wir nickten. Noch mal wurden Hände geschüttelt, und dann gingen wir nach oben.

Rip hatte einen Teil des Chaos von gerade eben beseitigt und stattdessen einige Bücher über den Tisch verteilt - unter anderem das Strafgesetzbuch, wie ich mit einer bitteren Freude feststellte. Als wir eintraten, blickte er auf. »Ah, Roland. Danke, dass du so schnell kommen konntest. Hallo Markus. Setzt euch.« Er streute eine Handbewegung quer über das Sofa und setzte sich dann zu uns, nachdem er ein paar der Bücher zusammengerafft hatte. Er warf einen prüfenden Blick zu Markus und Janosch, dann zu Roland und mir. »Bleiben wir bei dieser Runde, oder beschränken wir uns erst mal auf drei Leute?«, fragte er dann. »Vielleicht bleiben wir drei zusammen, und Markus und Janosch unterhalten sich nebenan ein bisschen?«, schlug Roland vor. Markus nickte. »Okay.« Nebenan war das Wartezimmer von Ripleys Praxis. Unter anderen Umständen hätte Janosch wahrscheinlich im Angesicht dieses Vorschlags eine säuerliche Grimasse gezogen, aber momentan war ihm danach einfach nicht zumute. Markus stand auf und winkte Janosch, ihm zu folgen.

Ich erzählte Roland - und noch einmal Rip - was ich wusste. Roland hörte schweigend zu. Hin und wieder nickte er und machte sich Notizen. Als ich fertig war, stellte er mir einige Fragen. »Du sagst, Janosch sei schon länger von Eurem Vater geschlagen worden. Wie lange ging das schon so?« »Schon seit einigen Jahren. Dad ist öfter die Hand ausgerutscht.« »Ist Janosch dabei mal verletzt worden?« Ich schüttelte den Kopf. »Nur blaue Flecke und ähnliches, keine Knochenbrüche oder Platzwunden oder ähnliches.« Abgesehen von den Brandwunden. »Wann hat der Missbrauch angefangen?« Ich überlegte - das wusste ich selbst nicht genau. Aber so wie ich Janosch verstanden hatte, ging das schon über einen längeren Zeitraum. Ich erklärte das Roland und versuchte dann, anhand der Anzeichen, die mir, Richie und Rip aufgefallen waren, zurückzurechnen. »Seit ungefähr anderthalb Jahren, denke ich.«

»Wie alt war Janosch zu dem vermuteten Zeitpunkt?« »Zwölfeinhalb.« Westermann nickte. »Gut. Dann sollten wir mal schauen, wie es den beiden geht.« Rip stand auf, um sie zu holen. »Was glaubst du, hätten wir eine Chance, wenn wir Anzeige erstatten würden?«, fragte ich Roland. Er nickte. »Das auf jeden Fall - wir brauchen nur die entsprechenden Beweise. Weißt du zufällig, wie alt die Videos sind?« »Nicht genau. Das eine, was ich gesehen habe, ist knapp anderthalb Wochen alt. Die anderen müssten älter sein.« »Viel älter?« Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht, wirklich nicht. Wofür ist das wichtig?«, wollte ich wissen. »Das erkläre ich dir später. Ich brauche nur erst mal eine möglichst unvoreingenommene Aussage von dir.«


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6. Kapitel

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Roland: Mittwoch abend, 22:45 Uhr

Der Grund, warum ich von Luke eine unvoreingenommene Aussage wollte, lag im deutschen Strafgesetzbuch begründet. Ich musste hier unterscheiden zwischen dem Paragrafen 182, der sich mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen beschäftigte, und den weitaus härteren Paragrafen 176 und 176a, die den sexuellen Missbrauch von Kindern betrafen. Von Luke und Janosch wollte ich erst einmal wissen, wann der Missbrauch begonnen hatte, oder genauer: wie alt Janosch zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Mir war klar, dass weder Luke noch Janosch wissentlich lügen würden, aber dieser Unterschied war einfach zu brisant. Und um sie gar nicht erst durcheinanderzubringen, ließ ich mich an dieser Stelle nicht weiter dazu aus, zumindest Luke gegenüber nicht. Rip hatte schon mehrfach miterlebt, wenn ich solche Fälle bearbeitet hatte, und wusste offensichtlich, worauf ich hinauswollte.


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Luke: Mittwochabend, 22:50 Uhr

In diesem Moment kam Rip mit Janosch und Markus wieder herein. »Okay, hier sind wir.« »Janosch, darf ich dir noch ein paar Fragen stellen?«, fragte Roland - ich spürte förmlich die Vorsicht in seiner Stimme. Janosch nickte schweigend. »Lass' dir Zeit, du brauchst nicht wie aus der Pistole geschossen zu antworten. Ich weiß, dass das Ganze nicht leicht für dich ist, aber ich verspreche dir, dass wir alles tun werden, damit alles wieder in Ordnung kommt, okay?« Janosch nickte wieder, dann rutschte er zu mir heran. Ich legte ihm wieder meinen Arm um die Schulter - es sollte nicht das letzte Mal sein, dass das geschah. Diese Geste würde in Zukunft einiges für uns bedeuten. Roland begann mit den Fragen: »Weißt du noch, wann dein Vater dich zum ersten Mal auf diese Art angefasst hat.« Janosch überlegte angestrengt. »Das muss vor anderthalb Jahren gewesen sein. Mum und Luke waren losgegangen, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen, und ich war mit Dad allein.« Ich erinnerte mich noch zu gut an dieses Weihnachtsfest ...

Es war einen Tag vor Heiligabend, und wir hatten den ersten Schnee. Darum waren wir alle in entsprechend guter Stimmung. Mum und ich waren in die Stadt gefahren, um noch ein paar Dinge zu besorgen, unter anderem den Weihnachtsbaum. Dad musste noch an einigen Akten arbeiten, und Janosch sollte sein Zimmer aufräumen. Als Mum und ich zurück waren, war Janosch allein in seinem Zimmer und lag im Bett, mit total verheulten Augen und körperlich geschwächt, dabei völlig durchgeschwitzt. Ich hatte ihn ein paar Mal gefragt, was mit ihm los war, aber keine Antwort bekommen. Damals hatte ich vermutet, dass es der obligatorische Weihnachtskoller war - seit ich denken konnte, war Janosch jedes Jahr zu Weihnachten krank. Meist war es einfach nur Übelkeit. Wir schoben das auf die Aufregung, als ich noch kleiner war, ging mir das nicht anders. Und damals hatte ich natürlich nicht geahnt, was los war.

Das ganze Gespräch dauerte alles in allem ungefähr eine Stunde. Roland hatte mittlerweile vier Seiten vollgeschrieben. Als eine Weile keine Fragen mehr kamen, stellte ich die Frage, die mir am meisten auf der Seele brannte: »Wie geht es jetzt weiter?« »Als erstes müsst ihr Anzeige erstatten. Das ist eine reine Formalität. Ich kenne zwei Beamte bei der Kripo, die mit solchen Fällen vertraut sind, an die könnt ihr euch ruhig wenden. Dann wird das Ganze an die Staatsanwaltschaft weitergegeben. Die wird gegen Euren Vater eine Klage erheben. Dann kommt in einigen Wochen der Prozess, und wir können nur hoffen, dass er verurteilt wird. Die Frage ist eigentlich nur, wie hoch das Strafmaß ausfällt. Alles andere ist eine reine Formsache. Das Wichtigste ist jedoch, dass du, Janosch, morgen erst mal zum Arzt gehst. Der kann dich untersuchen und ein Gutachten erstellen. Und wir brauchen die Videos.«

Von beiden Vorschlägen war Janosch nicht sonderlich begeistert. »Ich komme mit zum Arzt, wenn du willst«, bot ich ihm an. Janosch nickte nur. Ich ergriff noch einmal das Wort. »Was die Videos betrifft - wie können wir da vorgehen? Ich könnte ein paar morgen kopieren, wenn Dad im Büro ist. Wir behalten die Originalbänder und platzieren bei Dad einfach die Kopien.« Roland nickte. »Prinzipiell eine gute Idee, nur wird die Staatsanwaltschaft nicht besonders angetan davon sein, wenn du dich an den Beweismitteln zu schaffen gemacht hast. Du kannst höchstens eine Kopie von ein oder zwei Bändern machen, falls dein Vater irgendetwas mitbekommen sollte oder aus einem anderen Grund auf die Idee kommt, die Bänder verschwinden zu lassen. Werden die Filme von der Kamera alle mit einem Zeitstempel versehen?«

Ich nickte - ich hatte selbst schon oft genug auf Familienfeiern mit der Kamera gearbeitet. »Äh, und das wichtigste: wie alt sind die Bänder? Janosch, wann hat Dein Vater angefangen, das aufzunehmen?« Janosch zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau, aber bestimmt schon vor einem Jahr oder so.« Roland nickte zum Verständnis. »Dann hab' ich erst mal nur noch eine Frage: Du bist am 16. Februar 1986 geboren, ist das richtig?« Janosch nickte, und Roland machte sich eine weitere Notiz.

Wir besprachen noch einige weitere Dinge. Der schwierigste Teil war erst mal der, Mum einzuweihen. Wir konnten nur darauf hoffen, dass sie uns glaubte. Jedenfalls überlegten wir noch etwas und beschlossen dann, ins Bett zu gehen. Am nächsten Tag hatten wir viel vor, und langsam spürten wir alle deutlich die Müdigkeit in den Knochen. Janosch war in der letzten Viertelstunde schon zweimal eingenickt. Rip organisierte uns die Gästezimmer so, dass Janosch und ich ein großes Bett bekamen. Kaum hatte ich mich hingelegt, war Janosch ganz dicht an mich herangerutscht und sofort eingeschlafen. Ich dachte noch einmal über den Tag nach, besonders den Abend, und schließlich war es auch bei mir mit der Selbstbeherrschung vorbei. In dieser Nacht weinte ich mich zum ersten Mal seit Jahren in den Schlaf.

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Lynn: Donnerstag früh, 00:20 Uhr

Gähnend schloss Jochen die Tür auf. Er hatte sich auf dieser Party offensichtlich ebenso sehr gelangweilt wie ich - aber im Gegensatz zu ihm war ich noch nicht müde. »Hast du dich auch nur ein bisschen amüsiert?«, fragte er mich, während er seine Jacke auszog. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, außer als der Kellner deinem Chef den Sektkühler auf der Hose ausgeschüttet hat.« Jochen lachte. »Das dürfte ziemlich schmerzhaft gewesen sein, denke ich.« »Ja, das denke ich auch. Aber das habe ich bei dir ja zum Glück nicht nötig.« Er gab mir einen Kuss und sagte dann: »Dann habe ich ja noch mal Glück gehabt.«

Wir setzten uns noch ins Wohnzimmer. Jochen ging an unsere Minibar und schenkte jedem von uns einen Martini ein. »Du trinkst doch auch noch einen mit?«, fragte er, während er mir das Glas hinstellte. »Ja, schließlich bin ich vorhin gefahren. Übrigens, weißt du zufällig, wo mein Wagen ist?« Er zuckte die Schultern. »Ich denke, Luke hat ihn sich ausgeliehen.« Ich stand auf. »Bin gleich wieder da.« Ich ging in die Küche, meistens hinterließ Luke mir einen Zettel, wenn er meinen Wagen mitnahm und ich nicht da war. Und ich hatte richtig geraten - der Zettel lag mitten auf dem Küchentisch. »Hi Mum, ich habe mir für heute Nacht Dein Auto geliehen, wir sind zu Rip gefahren und übernachten dort. Gruß, Lucas.«

Na also, schon wieder eine Sorge weniger - bei Rip waren die Jungs gut aufgehoben, das wusste ich. Ich ging zurück ins Wohnzimmer. »Die Jungs sind bei Rip«, sagte ich zu Jochen. »Nanu? Da war Janosch doch erst heute Nachmittag.« Ich lächelte. »Vielleicht wollte Luke erst mal von seinen großen Abenteuern als Beinahe-Bruchpassagier berichten.« Jochen nickte. »Das wird's sein. Aber nichtsdestotrotz werde ich jetzt trotzdem ins Bett gehen. Kommst du mit?« Ich sah auf die Uhr und nickte dann. »Ja, ist wohl besser. Ich muss morgen um zwölf in der Redaktion sein und hab' vorher noch einiges zu erledigen.«

Jochen sah mich etwas enttäuscht an. Wahrscheinlich hatte er die Gelegenheit nutzen wollen, noch mal eine Nacht ungestört mit mir zu verbringen. Aber dazu war ich beim besten Willen nicht in der Stimmung, auch wenn unser Liebesleben in der Tat in letzter Zeit etwas nachgelassen hatte. Ich hatte auch schon mehr als einmal darüber nachgedacht, ob Jochen mittlerweile eine Geliebte hatte, aber den Gedanken ganz schnell wieder verworfen. Von meinem eigenen Ehemann konnte ich mir so etwas beim besten Willen nicht vorstellen.

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Janosch: Donnerstagmorgen, 07:40 Uhr

Ich wachte auf und wusste zunächst nicht, wo ich war. Luke lag neben mir, hatte seinen Arm um mich gelegt, und sein Kissen war ganz feucht. Langsam wusste ich wieder, was gestern Abend passiert war. Ich hatte Luke alles erzählt. Es war ein komisches Gefühl. Einerseits war ich erleichtert, weil ich das alles endlich jemandem erzählen konnte, und andererseits wusste ich nicht, was noch passieren würde. Ich hatte einfach Angst. Auch davor, was Dad mit mir anstellen würde, wenn ich ihm allein begegnen sollte.

Noch immer spürte ich all die Brandwunden auf der Haut. Bei jeder Bewegung tat es weh. Und dann die Erinnerungen ... ich hatte zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder ruhig geschlafen, und das lag daran, dass mein Bruder wieder bei mir war. Ich hatte ihn vermisst. Die letzte Woche war die schlimmste. Luke war noch im Urlaub, Mum war für einige Tage auf einem Seminar gewesen, und Dad hatte sich Urlaub genommen - ohne dass die anderen etwas davon wussten. Jeden Tag war er zu mir gekommen, und mir sträubten sich jetzt noch die Nackenhaare, wenn ich nur daran dachte - an seine Hände, die mir über den Rücken unter das T-Shirt glitten, wenn er hinter mir stand, und wie er sagte: »Komm schon, Janosch, es wird wieder Zeit, Daddy einen Gefallen zu tun.«

Kein einziges Mal hatte ich mich gewehrt. Jedes Mal hatte ich darauf gehofft, dass es so schnell wie möglich wieder vorbei sein würde, aber das war es nicht. Vorbei war es erst, als Luke wieder da war. Der Einzige, bei dem ich mir nicht sicher war, ob er vielleicht schon vorher etwas gemerkt hatte, war Ripley. Ich mochte Rip sehr gern, aber ich hasste seinen Job. Er war der Einzige, der mir Zeit ließ, wenn ich mal wieder Angst hatte. Früher hatte er mir immer eine Hand auf die Schulter gelegt, um mich zu beruhigen, aber mittlerweile hatte ich einfach Angst davor. Darum hatte ich versucht, ihm nicht zu zeigen, wenn ich in seiner Praxis war und mal wieder angst davor hatte, was diesmal kommen würde. Dabei wusste ich genau, dass Rip mir niemals wehtun würde.

Dasselbe galt für Luke. Wir lagen ziemlich eng zusammen, fast genau so, wie Dad mich ein paar Mal an sich gezerrt hatte. Aber diesmal war es etwas anderes: Es gab keinen Menschen, dem ich so sehr vertraute wie Luke. Kaum konnte ich weiter darüber nachdenken, als er aufwachte. Er sah mich verschlafen an. »Guten Morgen, Kleiner. Na, hast du halbwegs schlafen können?« Ich nickte. »Na ja, so halbwegs.« Luke streichelte mir über den Kopf. »Wir werden wohl noch einige unruhige Nächte haben, denke ich.« Da hatte er wohl recht. Schließlich gab er mir einen Kuss auf die Wange und stand auf. »Ich geh' schnell duschen, du kannst noch ein paar Minuten liegen bleiben, wenn du willst.«

Nach zehn Minuten war er wieder da und zog mir die Bettdecke weg. »So, 'raus aus den ...«, und er brach mitten im Satz ab und starrte mich an. Ich sah an mir herunter und bemerkte, dass mein T-Shirt hochgerutscht war. Mein Bauch und mein Rücken waren von den Brandflecken übersät, die Luke jetzt zum ersten Mal bei Tageslicht zu sehen bekam. Er war offensichtlich schockiert - ich hatte mich an den Anblick und die Schmerzen gewöhnt. Luke schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. »Ich denke, wir haben heute noch einiges vor«, sagte er dann. Ich nickte und stand dann auf, um mich ebenfalls zu duschen. Nach ein paar Minuten war ich auch wieder da, und wir gingen gemeinsam nach unten in die Küche.

Rip saß bereits am Tisch und blätterte in der Zeitung. Als wir hereinkamen, legte er sie jedoch aus der Hand. »Guten Morgen, Jungs. Na, ausgeschlafen?« Wir nickten - so eine typische »Das kann jetzt alles heißen«-Geste. Rip deutete auf die Stühle und schenkte uns dann Kaffee in die Becher. »Esst erst mal in Ruhe, wenn ihr Hunger habt. Alles Weitere können wir gleich besprechen.« In diesem Moment kamen Richie und Jason herein. »Guten Morgen ...«, begann Richie den Satz, brach aber mittendrin ab, als er uns sah. Er sah uns fragend an. »Wie jetzt? Noch hier?« Luke nickte. »Ja, ich hatte dich doch gestern um Asyl gebeten.«

»Stimmt, daran erinnere ich mich. Aber ich habe euch gegen halb zwölf zuletzt gesehen, und nachdem ihr um zwei immer noch nicht aufgetaucht seid, sind wir schon mal ins Bett gegangen.« Anschließend fügte er grinsend hinzu: »Dabei wolltet ihr uns aber wohl sowieso keine Gesellschaft leisten, oder?« Er zwinkerte in Lukes Richtung, der grinste zurück. »Nicht wirklich, Richie. Außerdem werde ich mit Sicherheit nicht Jason eifersüchtig machen.« Richie sah mich an. »Na ja, Janosch ist noch ein bisschen jung, den können ...« Bevor er den Satz beenden konnte, wurde er von Rip in einem ziemlich scharfen Ton unterbrochen: »Richie, halt' endlich die Klappe und fang an, zu frühstücken.«

Richie warf einen überraschten Blick in Richtung seines Vaters, sagte aber nichts mehr. Der Rest des Frühstücks verlief ziemlich ruhig, keiner sagte etwas. Schließlich sagte Rip zu uns: »Wenn ihr wollt, könnt ihr euch fertigmachen - Roland ist in ein paar Minuten da.« »Okay.« Wir standen auf und gingen nach oben - und Luke hatte natürlich prompt seine Zigaretten auf dem Küchentisch liegen lassen. »Geh' schon mal hoch, ich hol' sie.«, bot ich ihm an. »Okay, danke.«

Als ich vor der Küchentür stand, hörte ich, dass Rip leise, aber eindringlich mit Richie sprach: »Richie, tu' mir bitte einen Gefallen und verkneif' dir solche Sprüche, wenn Janosch oder Luke dabei sind.« »Hey, die beiden wissen schon längst Bescheid und hatten noch nie ein Problem damit«, warf Richie ein. »Das weiß ich. Das hat auch nichts mit euch zu tun oder damit, dass ihr schwul seid. Ich kann und will euch das jetzt nicht erklären, ich bitte euch einfach nur darum, euch etwas zurückzuhalten, okay?« »Okay ... es war nicht böse gemeint.« Ich konnte mir vorstellen, wie Rip nickte. »Das ist mir klar, Richie, es kam nur zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Und so wie es momentan aussieht, werden die Zeitpunkte auch nicht günstiger werden, zumindest nicht in den nächsten Monaten. Also denkt bitte dran.«

Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und dachte daran, wie mein Vater wohl reagiert hätte ... Richie hatte nicht mal einen Fehler gemacht, er konnte es einfach nicht wissen, schließlich hatten wir ihm nichts erzählt. Aber mein Vater hätte wahrscheinlich nicht großartig irgendetwas erzählt, sondern mir bei der nächstbesten Gelegenheit einfach eine 'reingehauen und mir dazugesagt, dass ich gefälligst meinen Mund halten sollte. Insgeheim beneidete ich Richie um seinen Vater.

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7. Kapitel


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Luke: Donnerstag, 09:50 Uhr

Irgendwie tat Richie mir leid. Rip hatte ihn gerade in einem Ton angesprochen, wie ich ihn noch nie zuvor bei ihm gehört hatte. Dabei konnte Richie gar nicht wissen, was passiert war. Ich überlegte, ob wir ihn einweihen sollten, schließlich war er einer unserer besten Freunde. Aber die Entscheidung wollte ich lieber Janosch überlassen. Ich sah auf die Uhr - kurz vor zehn war es mittlerweile. Roland wollte gleich auftauchen, und dann würden wir wohl alles Weitere besprechen.

Was mir momentan am meisten Sorgen machte, war die Frage, wie wir Mum das Ganze beibringen sollten, und vor allem, ob sie uns glauben würde. Ich hoffte es wirklich, aber mein Gefühl sagte mir etwas anderes. Schließlich liebte sie Dad, und sie hatte auch nichts davon mitbekommen, wie er Janosch in letzter Zeit zugerichtet hatte. Dann bleiben wohl nur noch die Videos als Beweismittel, aber das würde Janosch wohl nicht unbedingt passen. Ich würde das nachher mal mit Rip durchsprechen.

Janosch kam herein. »Unten ist gerade ein Auto angekommen, ich denke, das ist Roland.« Ich nickte. »Okay, ich komme 'runter.« Eigentlich hätten wir gar nicht erst hochgehen müssen. Janosch machte noch schnell einen Abstecher in Richtung Toilette, und als ich zu Ripleys Arbeitszimmer ging, lief mir Richie über den Weg. »Luke, warte mal. Ich ... äh ... ich wollte gerade eben nichts Falsches sagen.« Ich winkte ab. »Kein Problem. Schließlich seid ihr immer noch nicht eingeweiht. Ich denke, von uns hat das keiner falsch aufgefasst - schließlich kennen wir dich ja mittlerweile.« Von dem Gespräch, dass Rip mittlerweile mit Richie geführt hatte, wusste ich nichts - schließlich hatte ich nur die Szene bei Tisch mitbekommen.

Richie war offensichtlich erleichtert. »Okay. Ich wollte nur, dass ihr es wisst. Dad hat mir gerade gesagt, dass irgendwas nicht in Ordnung ist, so wie ich ihn verstanden habe, wohl hauptsächlich mit Janosch. Luke, ich hoffe du weißt, dass ich ihn niemals anrühren würde?« Ich nickte. »Schon klar, darüber machen wir uns auch keine Gedanken - ich denke, ich kann für Janosch mitsprechen. Und Dein Spruch gerade eben war ... naja, unpassend, aber schließlich wusstest du das nicht. Ich würde es auch gern erst mal dabei belassen, wenn es dir Recht ist, okay?« »Okay. Nur eins noch: Wenn ihr jemanden braucht, egal wofür, sagt einfach Bescheid.« »Machen wir, Danke.«

»Luke, Janosch, kommt ihr? Roland ist da«, rief Rip. Ich zuckte die Schultern und grinste ein wenig. »Du hast es gehört - der große Boss ruft.« Richie zog mit gespielter Hochachtung die Augenbrauen hoch. »Den sollte man nicht warten lassen. Wir gehen jetzt jedenfalls erst mal eine Runde mit Rinty 'raus.« »Viel Spaß, und flirtet nicht zu viel - das ist unanständig.« Lachend trennten wir uns. Ich war froh darüber, mal einen kurzen Moment von all dem abgelenkt gewesen zu sein, und hoffte darauf, dass wir das auch mit Janosch schaffen würden - ihn wenigstens mal für ein paar Minuten von seinen Problemen ablenken.

Roland stand schon ihm Büro. »Hallo, Luke. Kommt Janosch auch?« Ich nickte. »Ja, hoffe ich zumindest - er ist nur noch mal schnell dahin gegangen, wo auch der Kaiser nur alleine hingeht.« Roland grinste. »Alles klar. Ist aber vielleicht auch ganz gut, wenn wir drei kurz allein miteinander reden können. Ich denke, wir müssen jetzt erst mal eure Mutter informieren.« Ich nickte. »Ja, und das dürfte ein hartes Stück Arbeit werden.« »Wieso?«, fragte Roland. »Weil sie und Dad eigentlich eine ziemlich glückliche Ehe führen, abgesehen von meinen ewigen Streitereien mit Dad wegen Janosch verstehen sie sich prächtig.« »Was für Streitereien?«, hakte Roland gleich nach.

Ich erzählte ihm kurz, wie solche Gespräche in der Regel abliefen - Dad bevorzugte mich oder benachteiligte Janosch, ich versuchte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, und Mum bat uns irgendwann, dass wir uns einigen sollten - meist dahin gehend, dass ich meinen Kopf doch durchsetzte oder Dad das, worum es gerade ging, ganz fallen ließ. Rip und Roland hörten schweigend zu. »Wie lange geht das schon so?« Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Fünf oder sechs Jahre bestimmt schon.« Roland nickte und machte sich ein paar Notizen. Ich sah, dass er mittlerweile eine Akte für Janosch angelegt hatte.

Der kam in diesem Moment herein. »Hallo.« »Hallo, Janosch. Na, wie geht's dir heute.« »Hm.« Er zuckte die Schultern und sagte dann: »Jedenfalls besser als gestern.« Roland lächelte. »Na, immerhin etwas. Komm, setz' dich. Ich hab' nämlich noch ein paar Fragen an dich.« Die beiden setzten sich aufs Sofa, und ich sah, dass Janosch sich konzentrierte - er versuchte offensichtlich, Rolands Fragen so genau wie möglich zu beantworten. »Luke, wir haben für euch um Elf einen Termin mit der Kripo vereinbart, Roland wird mit euch dahin fahren. Ich werde währenddessen mit eurer Mum sprechen, in der Hoffnung, dass sie mir glaubt.« »Darüber habe ich auch schon nachgedacht.« »Und zu welchem Schluss bist du gekommen?«

»Ich denke, wenn sie dir wirklich nicht glaubt, müssen wir ihr wohl das Video zeigen.« Rip sah mich an. »Das klingt so, als ob da noch ein 'aber' hinterherkäme?« Ich nickte. »Ja. Janosch will nicht, dass noch irgendjemand das Video sieht.« Rip nickte. »Kann ich verstehen, aber das wird sich sowieso nicht umgehen lassen. Zumindest Roland und die Staatsanwaltschaft müssen sich das Band ansehen, außerdem der Richter. Die Polizei vielleicht nicht unbedingt - wenn wir es geschickt anstellen, müssen wir es erst dem Staatsanwalt übergeben, wenn der eingeschaltet ist.« »Okay.«

Wir setzten uns zu Roland und Janosch. Roland sah Rip fragend an, und der nickte nur. Roland wandte sich an Janosch. »Janosch, wir haben für elf Uhr einen Termin mit der Polizei vereinbart. Wenn du willst, fahre ich dort mit euch zusammen hin.« Janosch war davon gar nicht begeistert, nickte dann aber. »Okay.« Ich setzte mich zu Janosch. »Hey, kleiner Bruder, vergiss' nicht, dass ich bei dir bin, und wenn es geht, werde ich auch dabei sein, wenn du Deine Aussage machst.« Roland nickte: »Kein Problem. Offiziell geht das zwar nicht, aber ich kenne die beiden Beamten wie gesagt recht gut, und ich denke, da wird man einiges machen können.«

Ich räusperte mich. »Janosch, da ist noch was. Rip wird gleich mit Mum sprechen. Aber vielleicht muss er ihr das Video zeigen.« Ich spürte, dass Janosch sich versteifte. »Muss das sein?« Ich nickte. »Vielleicht nicht, aber schau' mal: Mum liebt Dad. Sie weiß nichts von der ganzen Sache. Und wie ich sie kenne, wird sie Rip nicht glauben, wenn er keine Beweise hat. Vor allem, wenn wir nicht dabei sind.« Janosch dachte eine Weile darüber nach, nickte dann aber. »Okay, dann ... dann zeigt ihr das Band.« Ich umarmte ihn. »Hey, ich wusste, dass ich auf dich zählen kann.« Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Roland und Rip einen anerkennenden Blick austauschten.

»Okay, dann sollten wir aufbrechen«, schlug Roland vor. »Rip, rufst du dann bitte die Mutter an?« Rip nickte und wandte sich dann an mich. »Luke, wo ist das Video?« »Das liegt noch unten im Auto, ich geb's dir gleich.« Wir gingen alle zusammen nach unten, ich gab Rip das Video, und dann fuhren wir mit Roland zusammen zur Kriminalpolizei. Janosch war sichtlich unwohl bei der ganzen Sache. »Luke, muss das wirklich sein?« Ich nickte. »Ja. Wenn wir irgendetwas gegen Dad unternehmen wollen, dann müssen wir das hier durchziehen. Und ich denke, wir haben die beste Unterstützung, die man haben kann.«

Ein paar Minuten später waren wir bei der Polizei eingetroffen. Roland war dort schon bekannt und wurde von den Beamten begrüßt, es wurden ein paar persönliche Worte gewechselt. Dann sagte einer der Polizisten: »Geh' ruhig hoch, die Kollegen warten schon auf euch.« Roland nickte und nahm uns dann mit nach oben. Wir wurden den Beamten kurz vorgestellt, und dann begannen Janosch und ich mit unseren Aussagen.

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Ripley: Donnerstag Vormittag, 10:30 Uhr

Ich ging wieder in mein Büro und setzte mich an den Schreibtisch, das Video hatte ich noch in der Hand. So richtig glauben konnte ich immer noch nicht, was hier gerade passierte. Andererseits hatte ich es schon viel zu oft erlebt - meistens dann, wenn die Kids zu mir in die Praxis kamen, mit ausgeschlagenen Zähnen, manchmal sogar mit einem gebrochenen Kiefer oder noch schlimmeren Verletzungen. Allerdings waren das körperliche Wunden, die wieder heilen würden. Die seelischen Schäden waren meist viel größer. Bei Janosch kam noch mit dazu, dass Jochen ihn nie wirklich wie seinen Sohn behandelt hatte.

Ich machte mir selbst Vorwürfe. Ich kannte Janosch mittlerweile lange genug und hatte auch oft genug mit missbrauchten oder misshandelten Kindern zu tun gehabt, sodass mir die Veränderungen von Janosch eigentlich genug hätten sagen müssen. Und jetzt, in diesem Moment, wusste ich nicht, warum ich nicht reagiert hatte. Vielleicht auch deshalb, weil Luke mir immer wieder bestätigt hatte, dass im Großen und Ganzen alles in Ordnung war - er nahm die Versprechen, die er Janosch gegeben hatte, sehr ernst. Ich war froh, dass Luke dabei war. Er war für Janosch in seiner jetzigen Situation der beste Ansprechpartner, den er sich wünschen konnte. Ähnlich wie Richie damals für Jason da war, aber hier noch viel intensiver - das zeigte mir einmal mehr, dass nichts ein festes Band zwischen zwei Brüdern zerreißen konnte.

Ich schüttelte kurz den Kopf, um ihn wieder klar zubekommen, griff dann zum Telefon und wählte die Nummer der Reillys. »Reilly und Hellmann«, meldete sich Lynn nach dem zweiten Klingeln. »Hallo Lynn, hier ist Rip.« »Rip? Ist was mit den Jungs?« Sofort klang sie besorgt. Ich überlegte - sollte ich hier ansetzen oder sie erst einmal beruhigen? Ich entschied mich für letzteres. »Nein, keine Sorge - es ist alles in Ordnung. Ist Jochen da?« »Nein, der ist schon im Büro, da müsstest du ihn erreichen können. Ist es wichtig?« »Nein, im Gegenteil. Ich müsste mal in Ruhe mit dir reden, könntest du eventuell bei mir vorbeikommen?« »Jetzt? Eigentlich muss ich gleich auch ins Büro.« »Es wäre schon gut, wenn du so schnell wie möglich kommen könntest. Hast du einen wichtigen Termin?« »Nein, nur die Redaktionssitzung, aber die Kollegen kommen auch ohne mich aus.«

Ich hoffte insgeheim, dass das nicht nur für heute galt - in den nächsten Wochen würde Janosch seine Mutter dringender brauchen denn je. »Okay, dann setz' dich ins Auto und komm' her, ich bin Zuhause.« bat ich sie. »Willst du mir nicht wenigstens sagen, worum es geht? Hat einer von den Jungs etwas angestellt?«, fragte sie, doch wieder etwas besorgter. »Nein, mach' dir keine Sorgen, die Jungs sind absolut unschuldig. Ich erklär' dir das gleich hier in Ruhe.« Das ganze am Telefon zu erklären schied für mich aus zwei Gründen aus: erstens war ein persönliches Gespräch überzeugender, und zweitens - wenn sie mir glaubte - wäre sie anschließend wohl kaum noch in der Lage, Auto zu fahren, bis sie den Schock erst mal verdaut hatte. »Okay, ich bin in einer halben Stunde da. Bis dann.«

Lynn kam pünktlich auf die Minute. Wir begrüßten uns und setzten uns dann auf die Couch. »Okay, das Gespräch wird nicht ganz einfach werden. Lynn, ich möchte ein paar Worte vorneweg sagen. Du wirst gleich wahrscheinlich ziemlich schockiert sein, das ist mir klar. Aber glaub' mir eins: Wenn ich mir nicht hundertprozentig sicher wäre, was ich sage, dann würde ich es nicht tun. Ich weiß, was sich nach diesem Gespräch verändern kann, und ich kann dich nur bitten, dass du mir glaubst. Und wenn du mir nicht glaubst, dann warte bitte, bis die Jungs wieder da sind.« Lynn sah mich mit einem Blick an, der eine Mischung aus Neugier, Besorgnis und Skepsis war. »Wo sind die Jungs überhaupt?«, fragte sie. Okay, dann wurde das eben der Einstieg.

»Sie sind mit einem Rechtsanwalt bei der Polizei und erstatten Anzeige gegen Jochen.« Lynn fiel nicht nur die Kinnlade herunter, sondern auch die Kaffeetasse aus der Hand. »WIE BITTE?« Das Temperament der Reillys - das hatte ich ja gestern bei Janosch und Luke auch schon erlebt. »Beruhige dich bitte.« »Ich soll mich beruhigen? Du sitzt hier und erzählst mir in aller Seelenruhe, dass meine beiden Söhne bei der Polizei sind und Anzeige gegen ihren eigenen Vater erstatten, und ICH SOLL MICH BERUHIGEN????« Ich versuchte, ruhig zu bleiben. »Wenn du mich bitte mal ein paar Sätze weiterreden lassen würdest, dann würde ich dir das ganze ja erklären.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Rip, beim besten Willen nicht. Das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen.«

Ich atmete tief durch. »Okay, Lynn, ich mache dir folgendes Angebot: Du hörst mir fünf Minuten lang zu. Von mir aus kannst du die Zeit mitstoppen. Wenn du dann immer noch nicht überzeugt bist, dann geh' von mir aus zur Polizei und erstatte Anzeige gegen mich wegen Verleumdung ...« - was sowieso keinen Sinn hatte, da es keine Zeugen gab - » ... oder mach' sonst was. Aber hör' mir bitte zu. Um Janoschs Willen.« Statt einer Antwort stand sie auf. »Meine Kinder gegen mich zu benutzen ... Rip, das hätte ich dir beim besten Willen nicht zugetraut.« Sie nahm ihre Tasche und machte Anstalten, aus dem Zimmer zu gehen. Dann eben auf dem brutalen Weg. »Jochen hat Janosch mehrfach vergewaltigt und misshandelt.«

Ihre Hand, die gerade auf dem Weg zur Türklinke war, blieb mitten in der Luft hängen. Ungefähr zehn Sekunden lang stand Lynn still wie eine Salzsäule, dann drehte sie sich langsam zu mir um. »Sieh' mir in die Augen und sag' mir das bitte noch einmal.« Ich stand auf, stellte mich eine Armlänge entfernt vor sie hin, sah ihr in die Augen und sagte dann: »Dein Mann Jochen hat euren Sohn Janosch mehrfach vergewaltigt und misshandelt.« Langsam ließ sie sich wieder aufs Sofa sinken. Dann sagte sie leise: »Das ... das kann doch unmöglich dein Ernst sein.« Ich nickte. »Doch, ist es leider.«

Eine Weile schwiegen wir. Ich wollte ihr erst einmal die Zeit geben, den Schock zu verdauen. Schließlich fragte sie mich: »Woher weißt du das?« »Luke und Janosch sind gestern zu mir gekommen und haben mir das ganze erzählt. Luke hat zufällig mitbekommen, dass Jochen Janosch zweihundert Mark zugesteckt hat, mit dem Hinweis, er sollte niemandem etwas von ihrem kleinen Geheimnis erzählen. Luke hat bei Janosch nachgehakt, und der hat ihm das Ganze schließlich erzählt. Lynn, ich habe Janosch hier gestern erlebt - der Kleine stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch.« Sie versuchte krampfhaft, ihre Fassung zurückzugewinnen, was ihr allerdings nicht gelang.

»Habt ... habt ihr irgendwelche Beweise?« Ich nickte. »Beim letzten Mal hat Jochen wohl Zigarettenkippen dazugenommen, jedenfalls hat Janosch eine ganze Menge Brandmale auf dem Körper. Außerdem hat Jochen diese Schweinereien wohl mehrfach gefilmt. Luke hat mir eine von den Kassetten gegeben, ich habe sie allerdings noch nicht gesehen.« Statt einer Antwort schlug sie nur die Hände vors Gesicht. Leise hörte: »Das hätte ich ihm nie zugetraut ...« Ich ließ sie ein paar Minuten allein, damit sie den Schock verdauen konnte. Ich wusste nicht, wie ich an ihrer Stelle reagiert hätte - meine Frau und ich waren seit fünfzehn Jahren geschieden, von daher stellte sich mir die Frage in der Form nicht - aber ich wusste, dass Lynn und Jochen bis dahin glücklich verheiratet gewesen waren, und ich wusste auch, dass Lynn ihn immer noch liebte.

Schließlich sagte ich: »Ich konnte es ja selbst erst nicht glauben, Lynn.« Ich stand auf und ging zu meinem Schreibtisch. Normalerweise war ich kein Freund von Alkohol, erst recht nicht in solchen Situationen, aber ein kleiner Schluck zur Beruhigung der Nerven würde Lynn jetzt gut tun. Ich schenkte ihr einen kleinen Whisky ein, stellte das Glas vor sie hin und setzte mich dann ebenfalls wieder. »Danke.« Sie nahm das Glas und leerte es in einem Zug. »Kann ich das Band sehen?« Ich deutete mit dem Kopf auf meinen Schreibtisch. »Es liegt dort drüben. Ich muss dir allerdings gleich dazusagen, dass Janosch von der Idee nicht begeistert war, dir das Band zu zeigen.« »Wieso nicht?«, fragte sie. »Überleg' doch mal ... versuch' mal, dich einen Moment in Janosch hineinzuversetzen, und was in ihm vorgeht. Ihm ist das Ganze total peinlich. Und wenn Luke nicht so energisch nachgefragt hätte, wüssten wir wahrscheinlich immer noch nichts.«

Lynn nickte. Dann fügte ich hinzu: »Roland hat das Band auch noch nicht gesehen. Ich würde vorschlagen, dass wir zumindest warten, bis er wieder da ist.« »Wer ist Roland?« »Ach so ... sorry. Roland Westermann ist Rechtsanwalt und ein guter Freund von mir. Sein Fachgebiet ist Familienrecht, er hat sich in den letzten Jahren fast nur mit Fällen von sexuell missbrauchten Kindern beschäftigt. Luke hat ihn übrigens gestern Morgen auf seinem Katastrophenflug schon kennengelernt.« Lynn sah mich überrascht an. »Etwa sein Sitznachbar?« Ich nickte. »Genau der.« Lynn schüttelte den Kopf. »Das darf doch alles nicht wahr sein ... wie soll es denn jetzt weitergehen?« Ich begann, Lynn alles zu erklären, wie ich es mit Roland besprochen hatte.

Etwa eine Stunde später klingelte das Telefon. »Rip Masters.« »Hallo Rip, Roland hier. Wir sind mit der Polizei durch, ich hab' die Jungs gerade bei Dr. Böttcher abgesetzt.« »Gut, wie ist es gelaufen?« »Recht gut. Janosch hat sich alle Mühe gegeben, sich zusammenzureißen, und alle Fragen so gut er konnte beantwortet. Aber ich denke, wenn Luke nicht dabei gewesen wäre, dann hätte er es nicht so leicht geschafft. Unter uns gesagt, ich weiß nicht, wie lange die beiden das noch durchstehen«, äußerte sich Roland ziemlich besorgt. »Ja, ich weiß.« »Hast du mittlerweile mit der Mutter gesprochen?« »Ja, habe ich.« »Dann gib' sie mir doch bitte mal.« Ich hielt Lynn den Hörer hin und schaltete den Lautsprecher ein. »Hier, Roland möchte kurz mit dir sprechen.«

»Lynn Reilly.« »Roland Westermann, guten Tag, Frau Reilly. Ich denke, Rip hat sie schon informiert?« »Ja, hat er. Sie sind der Anwalt?« »Ja, genau. Frau Reilly, um es kurz und knapp zu sagen: Janosch und Lucas haben mittlerweile Anzeige gegen Ihren Mann erstattet. Theoretisch reicht es aus, wenn Luke dabei ist - er ist volljährig und kann im Ernstfall alle notwendigen Entscheidungen treffen. Es wird nur für uns alle bedeutend einfacher, wenn wir Sie auf unserer Seite wissen. Können wir mit Ihnen rechnen?« »Geht es um die finanzielle Seite? Wir haben eine Rechtschutzversicherung, und ...« Ich konnte mir förmlich vorstellen, wie Roland abwinkte. »Erstens greift eine Rechtschutzversicherung sowieso nicht bei innerfamiliären Streitigkeiten, und zweitens ist das Geld wirklich das allerletzte, was mich momentan interessiert. Es geht mir erst mal darum, dass Janosch geholfen wird. Dazu gehört auch, dass er nicht in die Gefahr gerät, Ihrem Mann noch einmal über den Weg zu laufen.«

Lynn atmete tief durch. »Herr Westermann, für mich ist das ganze auch nicht einfach. Ich bin seit sechzehn Jahren mit Jochen verheiratet, das wirft man nicht einfach so über Bord.« »Ja, ich weiß, dass das auch für Sie nicht leicht ist. Aber ich bitte Sie, denken Sie erst mal an Janosch. Er ist gerade erst vierzehn. Ich habe lange genug mit Jungs wie ihm zu tun, um mir vorstellen zu können, was Ihr Mann da angerichtet hat, und auch eine Situation wie Ihre ist mir nicht neu - dass die anderen Familienmitglieder überhaupt nichts ahnen, bis schließlich der große Knall kommt. Hat Rip Ihnen von den Videos erzählt?« »Ja, aber ich habe sie noch nicht gesehen.« Ich mischte mich ein. »Lynn, bitte tu' Janosch den Gefallen und hör' auf Roland. Das Ganze ist zwar nicht wiedergutzumachen, aber zumindest können wir Janosch die ganze Sache jetzt ein bisschen leichter machen. Aber dafür brauchen wir dich.«

Lynn nickte erneut. »Okay. Rip, ich denke, ich kenne dich lange genug, um zu wissen, was du tust, und dass du die richtigen Leute einschaltest. Herr Westermann, ich erteile Ihnen hiermit volle Handlungsvollmacht. Ich werde das hier bei Ripley gleich schriftlich festhalten. Hauptsache, wir können etwas für Janosch tun.« Auf diesen Satz hatte ich gewartet, seit Luke mir von all dem berichtet hatte - 'wir können etwas tun' aus dem Mund von Lynn. Jetzt war ich mir sicher, dass sie dabei war. »Okay. Dann fahre ich direkt weiter zum Vormundschaftsgericht und hole auf dem Rückweg Janosch und Luke ab. Wir kommen dann direkt bei Rip vorbei. Bis nachher.« Es klickte, und dann hatte Roland aufgelegt. Lynn sah mich an. »Rip, du weißt, dass ich normalerweise kein religiöser Mensch bin. Aber diesmal kann ich wirklich nur beten, dass alles wieder in Ordnung kommt.« Ich nickte. »Das wird es, Lynn, das wird es. Das habe ich Janosch und Luke versprochen, und das verspreche ich auch dir. Gemeinsam werden wir das schaffen, und ich werde euch helfen, wo ich nur kann.«


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8. Kapietel


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Luke: Donnerstag Nachmittag, 14:45 Uhr

Wir standen draußen vor der Praxis von Dr. Böttcher. Er hatte Janosch gründlich untersucht, und seiner Reaktion konnte ich entnehmen, dass er so etwas nicht zum ersten Mal sah. Nach der Untersuchung hatte er uns noch für ein paar Minuten ins Wartezimmer geschickt und mir dann einen Briefumschlag in die Hand gedrückt, der an Roland adressiert war. »Gib' das bitte an Dr. Westermann weiter, und sag' ihm, wenn noch Fragen sind, kann er mich wie immer jederzeit anrufen.« Bei der Gelegenheit fiel mir auf, dass seit wir Rip eingeschaltet hatten alles lief wie ein Schweizer Uhrwerk. Noch vor vierundzwanzig Stunden stand so viel in den Sternen, und jetzt ging alles wie am Schnürchen weiter.

Janosch tippte mir auf die Schulter. »Luke, hast du 'ne Zigarette für mich?« Ich gab ihm die Schachtel und mein Feuerzeug, fügte dann aber doch hinzu: »Pass' auf, dass du dir das nicht dauerhaft angewöhnst, Kleiner.« »Wieso, du rauchst doch auch?« Ich nickte. »Ja. Aber wenn ich vom Fernsehturm springen würde, würdest du dann hinterherspringen?« Janosch grinste. »Kommt drauf an - wenn du schon unten angekommen wärst und ich weich landen würde, warum nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Und so einer ist mein Bruder«, sagte ich lachend. »Na klar. Einer allein kann doch gar nicht so abgefahren sein wie du.« Ich knuffte ihn in die Rippen. »Du, pass' auf ...« Ich hatte wohl eine ungünstige Stelle getroffen - jedenfalls sah ich, dass in seinen Augen der Schmerz aufblitzte und sein Lachen schlagartig erstarb. »Sorry, tut mir leid.«

»Schon okay, ist ja nicht deine Schuld«, sagte er leise, dann wandte er sich ab. Mist, das hatte eindeutig ich verbockt. »Janosch, ich ...«, fing ich an, aber er unterbrach mich. »Nein, Luke. Ist schon in Ordnung. Ich hätte dir da gar nichts davon erzählen dürfen, es ist sowieso alles meine Schuld. Wenn Mama und Papa sich jetzt auch noch trennen, dann ...« Ich sah, dass seine Schultern zitterten. Ich ging an ihm vorbei und hockte mich vor ihm hin - ihm von hinten die Hand auf die Schulter zu legen wäre wahrscheinlich so ziemlich das Verkehrteste gewesen, was ich machen konnte.

Ich sah ihm in die Augen. »Janosch, bitte - sag' so etwas nie wieder. Der Einzige, der hier etwas verbrochen hat, ist Dad - aber bestimmt nicht du. Du kannst nichts dafür, Janosch.« Er erwiderte meinen Blick, mit einer Mischung aus Trauer und Ungläubigkeit. Allein dieser Blick reichte auch, um meine Wut auf Dad wieder für eine Weile zu schüren. »Und, Janosch ... wenn Mum und Dad sich wirklich trennen, dann wird Dad sich nie wieder an dir vergreifen können. Jetzt kommt er erst mal ins Gefängnis, und bis er da wieder 'raus ist, wer weiß, wo wir dann sind ... vielleicht ziehen wir mit Mum nach Dublin. Dann können wir Granny und Grams öfter besuchen. Oder wir bleiben hier und bauen uns etwas Eigenes auf, zusammen mit Mum. Wir brauchen Dad nicht dafür. Was er dir angetan hat, ist mit nichts in der Welt, aber auch gar nichts, zu entschuldigen.«

Janosch schien mir zwar zu glauben, aber trotzdem fing er wieder an zu weinen. Ich erhob mich und nahm ihn in den Arm. Er schluchzte nur noch lauter. Plötzlich tippte mir von hinten jemand auf die Schulter. »He, lass' gefälligst den Jungen los.« Ich war so überrascht, dass ich Janosch tatsächlich losließ und mich umdrehte. Hinter mir stand ein älterer Mann, ich schätzte ihn so auf Anfang siebzig. Er griff nach meinem Arm und versuchte, mich von Janosch wegzuziehen. »Moment mal, das ist mein Bruder!«, sagte ich. Er sah mich mit funkelnden Augen an. »So? Das wollen wir doch mal sehen. He, Kleiner!«, meinte er, zu Janosch gewandt.

Der war genauso überrascht wie ich und trocknete sich erst mal die Augen ab. »Wollte der Kerl hier irgend was von dir?« »Luke? Nein. Das ist mein Bruder, aber das hat er doch schon gesagt.« »So? Na ja ... bei der Jugend von heute weiß man ja nie ... schönen Tag noch.« Er ging an uns vorbei, ohne sich noch mal umzudrehen. Uns beiden kam das Ganze vor wie eine schlechte Komödie. Monatelang war Janosch allein gewesen mit seiner Angst und seinem Schmerz, und jetzt, wo das schlimmste überstanden war, zeigte plötzlich jemand Zivilcourage.

In diesem Moment kam Rolands Wagen vorgefahren. »Okay, Jungs, da bin ich. Sorry, es hat etwas länger gedauert, aber ich habe gute Nachrichten. Steigt erst mal ein.« Wir setzten uns in den Wagen, und Roland fuhr ohne Umwege zu Rip. »So, ich habe in der Zwischenzeit einiges erreicht. Zunächst mal, Rip hat mit eurer Mutter gesprochen. Sie steht voll hinter euch beiden.« Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, und ich denke, Janosch ging es nicht anders. »Okay, und das ist nicht die einzige gute Nachricht. Ich war gerade beim Vormundschaftsgericht. Vorläufig hat eure Mutter das alleinige Sorgerecht für dich, Janosch - Luke, du bist schon volljährig und somit überhaupt nicht davon betroffen. Außerdem hat euer Vater ab sofort Hausverbot. Er wird heute Nachmittag noch mal vorbeikommen und seine Sachen abholen, dann wird aber die Polizei dabei sein.«

Bis Janosch und ich das alles kapiert hatten und Roland uns noch einiges erklärt hatte, waren wir bei Rip angekommen. Mum empfing uns, äußerlich zwar gefasst, aber ich kannte sie und wusste, dass sie innerlich entweder kochte oder mit den Nerven am Ende war. Roland erklärte noch einmal, was passiert war. Dabei fiel mir ein, dass ich noch den Umschlag von Dr. Böttcher in der Tasche hatte. »Hier, das soll ich dir geben, mit einem schönen Gruß dazu. Wenn noch Fragen sind, kannst du Dr. Böttcher jederzeit anrufen.« Roland nickte. »Das habe ich auch gar nicht anders erwartet. Hier, Frau Reilly, das können Sie sich gleich mal ansehen.« Mum nahm den Umschlag, öffnete ihn und besah sich den Inhalt. Neben einem offiziellen Anschreiben war der Rest wohl ein Gutachten, vermutete ich jedenfalls. Dr. Böttcher hatte Luke eingehend untersucht und sich eine ganze Menge Notizen gemacht.

Mum legte das Schreiben aus der Hand und sah dann Janosch an. »Dürfte ich mir das auch mal kurz ansehen?« Janosch nickte wortlos und zog dann sein T-Shirt aus. Ich hatte mich mittlerweile schon fast an den Anblick gewöhnt, es tat trotzdem noch weh. Mum, Rip und Roland sahen Janoschs Verletzungen zum ersten Mal - und die Reaktionen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Rip wandte sich mit einem Blick ab, als wenn er sich gleich übergeben müsste. Roland zuckte bei dem Anblick sichtlich zusammen, sah aber im Wesentlichen aus, als sei es das, was er erwartet hatte. Und Mum ... sie verlor endgültig die Fassung. Statt etwas zu sagen, stand sie wortlos auf und griff nach ihrer Jacke und ihrer Handtasche.

»Lynn, stopp mal! Wo willst du hin?«, fragte Rip, während er nach ihrem Arm griff. »Zu Jochen ins Büro«, zischte sie. Rip schüttelte den Kopf. »Gar keine gute Idee. Es ist nicht so, dass ich dich nicht verstehen könnte, aber wenn du das jetzt machst, dann könnte Roland auf die Idee kommen, Anzeige gegen Dich zu erstatten wegen Körperverletzung oder was auch immer.« Statt einer Antwort legte sie wortlos die Tasche wieder aus der Hand. »Ist wohl wirklich besser. Aber ich würde ihn am liebsten mit bloßen Händen erwürgen, Rip, das kannst du dir vielleicht vorstellen.« Ich nickte. »Ja, das kann ich. Aber damit ist keinem von uns geholfen.«

In diesem Moment klopfte es, und noch bevor einer von uns reagieren konnte, stand Jason in der Tür. »Äh, Rip ... oh, shit!« Janosch versuchte zwar noch schnell, sich sein T-Shirt zu schnappen, aber da er mitten im Raum stand, hatte Jason sowieso schon alles gesehen, was er sehen musste. »Sorry, ich komm' später noch mal wieder.« sagte er, drehte sich um und ging wieder 'raus. »Jason, warte mal!«, rief Rip ihn zurück. »Ja?« Rip ging zu ihm. »Erzähl' den anderen bitte erst mal nichts davon, okay? Janosch möchte nicht unbedingt, dass gleich alle Bescheid wissen.« »Okay. Ist es das, was ich vermute?« Rip nickte. »Ja, leider.« »Wenn ihr noch jemanden braucht ... sagt einfach Bescheid, egal was ist«, sagte Jason, warf noch einen Blick in Janoschs Richtung und ging dann wieder aus dem Zimmer.


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